Ton Steine Scherben in Hannover – Rio Reisers Erbe lebendiger als je zuvor


Ton Steine Scherben Hannover 2015

Hannover. Zu Zeiten, als der gesellschaftliche und politische Schmelztiegel Westberlins die Unangepassten, Kreativen, Träumer und Kunstschaffenden umschloss, die Bürger des Landes politisiert waren und die Enge im Zentrum des sozialistischen Bruderstaates ein Feuer des Aufbruchs, der Revolte und der Freiheit entfachte, prägten die Mitglieder von Ton Steine Scherben, wie keine andere Band die linke Szene. Nun da der neuzeitliche Politikverdruss zu bröckeln beginnt, steigen auch die verbliebenen Gründungsmitglieder der „Scherben“ wieder auf die Bühnen der Republik. Erstmals seit der Trennung im Jahre 1985 spielten, im Capitol Hannover am Mittwochabend, die Restscherben gemeinsam auf. Ergänzt durch die Frische junger Künstler, neuer Ideen sowie Interpretationen, erschaffen die neun Bandmitglieder eine Stimmung, die Fäuste in die Luft fliegen und Kehlen voller Inbrunst alte Gassenhauer hervorpressen lässt.

Während viele der bekannten, aber auch weitestgehend unbekannten Ex-Mitglieder immer wieder mit Nachfolgeprojekten auf sich aufmerksam machten, verstummte Gründungsmitglied R.P.S. Lanrue nach dem Tod des Frontmannes, Texters und Sängers Rio Reiser fast komplett. Doch nun juckt es ihm in den Fingern. Es sei ihm wichtig, die Lieder der Scherben wieder zu spielen, da sie ihm immer noch aktuell erscheinen. R.P.S. Lanrue nach so langer Zeit wieder beim Bespielen seiner Gitarre erleben zu dürfen, erscheint als eine echte Sensation.

Neben Lanrue besteht die verbleibende Originalbesetzung der Ton Steine Scherben aus den zwei ursprünglichen Mitgliedern Kai Sichtermann und Funky K. Götzner, welcher sich mit Maxime S.P. das Schlagzeug sowie die Percussions teilt. Außerdem sind Lanrues Tochter Ella Josephine Ebsen, welche sich mit Jungtalent Nicolo Rovera, Keyboarder Lukas McNally und ihrer Tante Elfie-Esther Steitz die Gesangsparts teilt, Mitglieder der Ton Steine Scherben.

Gute zwanzig Minuten im Verzug startet die Show ohne Support und anderen Schnickschnack sowie einer minimalistisch hergerichteten Bühne: fünf Kugellampen, neun Musiker und deren Instrumente. Die Komposition des Auftrittes erscheint abwechslungsreich, mit Stimmungsspitzen und gedämpften Tönen. So wie es die Vielfältigkeit der „Scherben“ verlangt. Der stete Wechsel der Sänger/innen wirkt somit eher lockernd als konzeptlos, und projiziert ein Gefühl von Gemeinschaft und Gleichstellung. Die alte Kerntruppe unterstützt dies physisch, indem sie sich allesamt im hinteren Bereich der Bühne positionieren. Den jungen Künstlern wird somit genügend Platz gelassen, neben den großen Fußstapfen und dem Pathos der „Scherben“ zu Zeiten von Rio Reiser, eigene Abdrücke zu hinterlassen.

Bildergalerie: So war Ton Steine Scherben live

Allerdings kann man das Gefühl nicht verleugnen, dass sowohl die Band, als auch das vom Altersdurchschnitt bunt gemischte Publikum ein paar Lieder benötigen, um den Rost abzusprengen und trotz eines vermeintlich fulminanten Starts mit der lange Zeit nicht gespielten Agit-Rock-Hymne „Keine Macht für Niemand“, warm mit sich zu werden. Ab und an kann man den einen oder anderen Besucher gesetzten Alters dabei beobachten, schmunzelnd auf die Bühne zu blicken. Sind das vielleicht Erinnerungen aus einer längst vergangenen Zeit. Das was 1985 endete wird es nie mehr geben, aber das Erbe des ’96 verstorbenen Rio Reisers darf leben und ist lebendiger als lange zuvor.

Nach dem beinahe zweistündigen Konzert, dass mit insgesamt drei Zugaben keine Wünsche für die Setliste übrig ließ, verabschiedeten die „Scherben“ in neuem Gewand, zufriedene Gesichter in die Nacht. Die Befürchtung, einen Scherbenhaufen zu erleben, konnte allumfassend zerstreut werden.

Danke an Maria Graul für Bilder und Text und an Bastian Kühne.