Vom 17. bis zum 19. August findet zum 12. Mal das wohl bunteste Musikfestival des Nordens statt: das MS Dockville 2018 in Hamburg. Wir berichten vom ersten Tag: Freitag.
Es ist Ende August – und damit wieder Zeit für das Dockville, das legendäre Festival in Wilhelmsburg, dem ungehobelten Stadtteil im Süden Hamburgs. Doch gefühlt beginnt das Dockville viel früher: Schon Wochen vorher kann man sich auf diversen Vorab-, Neben-, Super-, Sonder-, Spezial- und Zusatzfestivals warmfeiern: zum Beispiel auf dem Artville Kunstfestival mit Richtfest (Vernissage) und Burgfest (Finissage), auf dem Butterland Electronic-Festival, dem Slamville Poetry Slam, dem Spektrum Festival für Hip-Hop und auf dem Vogelball. Das MS Dockville bildet den Abschluss und setzt ein großes, buntes Ausrufezeichen ans Ende dieses Festivalmarathons.
Üben fürs Dockville
Im Sommer gibt’s hier kaum ein Wochenende, an dem nicht gefeiert wird. Was die Wilhelmsburger wohl davon halten? Hängt wahrscheinlich stark vom Alter ab. Für alle anderen hat’s den Vorteil, dass sie sich auf den Vorabfestivals fürs Dockville vorbereiten können. Man kann sich zum Beispiel schon mal mit dem Gelände vertraut machen, um im Ernstfall den schnellsten Weg zum Bierstand zu finden. Oder schon mal üben, mit Bier, Kippe und Seifenblasen-Pistole aufs Dixieklo zu gehen, ohne was vom Dixieklo zu berühren.
Eine bunte Tüte Musik, Kunst und Schnickschnack
Als Fotograf Axel und ich am Freitag gegen 14:30 Uhr aufs Gelände kamen, war noch nicht viel los. Am Wetter konnte es nicht liegen. Es war zwar grau und bewölkt, aber wer bei der Dockville-Schlammschlacht letztes Jahr dabei war, muss bei ein paar Regentropfen nur müde lächeln. Wahrscheinlich lag’s eher daran, dass selbst das junge Dockville-Publikum um die Zeit noch mit wichtigeren Dingen beschäftigt ist: Arbeit, Uni, Galao-Brunch in der Schanze. Eine gute Chance, ohne Gedränge das Gelände zu erkunden. Es gibt viel zu sehen.
Das MS Dockville ist wie eine bunte Tüte am Kiosk: von süß bis sauer und von Weingummi bis Lakritz ist für jeden was dabei. Und wenn man mit den Fingern ganz unten der Tüte rumfummelt und denkt, dass die besten Sachen weg sind, entdeckt man noch einen Leckerbissen. Zum Beispiel als wir zwischen zwei Büschen durchgegangen sind und plötzlich vor einer bunten Lokomotive standen, auf der ein DJ auflegt. Und das ist nur eine von vielen Bühnen und Clubs mit sympathisch-bekloppten Namen wie „Easy Kisi“ und „¥€$ we can can“. Dazu kommen noch zahlreiche Stände, die entweder unwichtigen Schnickschnack oder wichtige Infos bieten, zum Beispiel „pro familia“. Und überall dazwischen: viel Kunst und Kreativität. Bei unserem Rundgang sind wir an einem riesigen Schrott- Mader und an einem Turm aus bunten Klötzen vorbeikommen. Dann tauchte plötzlich ein Holz-Wal aus dem Boden auf und ein meterhoher Holzkopf stierte uns an, aus dessen Kopf ein Baum wuchs. Schicke Frise.
All das sieht man, wenn man zwischen den drei großen Hauptbühnen pendelt: „Großschot“, „Vorschot“ und „Maschinenraum“. Unsere erste Band am Freitag spielte auf dem Großschot:
The Cool Quest
Die fünf Musiker aus den Niederlanden spielen funkigen, groovigen Pop. Manchmal etwas rockiger, manchmal etwas elektronischer – aber immer sehr tanzbar. Laut eigener Bio soll da auch Hip-Hop drin sein, den konnte ich aber nicht raushören. Auf jeden Fall haben sie es geschafft, die ersten müden Fans aufzuwecken. Wer gerade noch zaghaft mit den Füßen gewippt hat, hat spätestens beim Cover des trashigen 90er Dacnefloor-Hits „Gypsy Woman“ ausgelassen gefeiert. Auch die Klamotten von The Cool Quest haben zur Zeitreise in die 90er gepasst: ausgewaschen Jeansjacken, Leopardenshorts und andere Klamotten, die zusammenpassen, weil sie gerade nicht zusammenpassen. Damit haben sie übrigens den Style des diesjährigen Dockvilles gut getroffen.
Die 90er sind zurück
Letztes Jahr sahen auf dem Dockville noch alle aus wie Neo-Hippies oder Indianer. Doch schon damals haben erste Fila-Sweatshirts und Tattoo-Halsketten angedroht, was dieses Jahr nicht zu übersehen war: die 90er sind zurück. Und mit ihnen der trashige Klamottenstyle von damals: Trainingsjacken aus Ballonseide in Türkis, Rosa und Navyblau. Gürteltasche, klobige Fila-Turnschuhe, Tennissocken in Adiletten. Warum können die Jugendlichen von heute nicht aus den Fehlern der Vergangenheit lernen? WARUM?!!?!
Phlake
Zurück zur Musik. Auf der Großschot-Hauptbühne war Phlake aus Dänemark am Start. Sänger Mads Bo, Beat-Bastler Jonathan Elkær und ihre Band haben feinen RnB gespielt: Mads soulige Stimme, die er gerne mal zum Falsett hochschraubt, dazu ein warmer Beat und eine funky Gitarre – perfekt. Sänger Mads singt übrigens weitaus cooler, als seine Sandalen vermuten lassen.
Mogli
Bei Mogli konnten wir nur einen kurze Zwischenstopp einlegen. Sie hat eine tolle Stimme und singt verträumte Lieder voller Fernweh. Kein Wunder, sie hat mal einen Roadtrip von Alaska bis Argentinien gemacht und darüber einen Film gedreht. Eigentlich total unwichtig, aber trotzdem interessant: Mogli hat einen schwarzen Gürtel in Taekwondo.
Goldroger
Goldroger ist ein Rapper aus Dortmund, wofür er von mir schon mal Vorschusslorbeeren bekommt. Ein cooler Dude mit einer angenehm rotzigen Art, ganz ohne Allüren oder Gangster-Rap-Gepose. Mit einem lauten „Wir sind da! Seid ihr auch da?“ ging’s mit dem gleichnamigen Song los: ein schwerfälliger, dicker Beat mit schrillen Gitarrensamples. Hört sich nach Hip-Hop-Rock Crossover an, wurde dann aber sehr jazzig. Hat mir gut gefallen.
Chefboss
BOOOOOM! Chefboss explodiert ab Sekunde 1. Mit einem „Wir zerlegen diesen Club zu Mosaik!“ machte die Sängerin Alice Martin klar, dass gefeiert werden darf, nein – muss! Treibende, ausgeflippte Dancehall-Beats ballerten mit Druck ins Publikum und verwandelten die Dockville-Besucher in eine wild tanzende Meute, die von Chefboss-Tänzerin Maike Mohr noch weiter angeheizt wurde. Der Höhepunkt des Wahnsinns war erreicht, als dutzende Handtücher ins Publikum geworfen wurden, um sie im Takt über den Köpfe zu drehen: „Helikopter Style!“ Die Energie, die in dem Moment freigesetzt wurde, hätte gereicht, um Wilhelmsburg für drei Tage mit Strom zu versorgen.
Everything Everything
Die vierköpfige Band aus England hat 2007 mit gitarrenlastigem Indie-Rock angefangen. Synthie-Sounds kamen erst später dazu, „when we could afford the gear.“ Heute stehen sie auf der Dockville Hauptbühne: Sänger Jonathan Higgs ist im orangefarbenen Mantel kaum zu übersehen und singt mit ausladenden Armen, was ihm den Pathos eines Opernsängers verleiht.
Leoniden
Die Leoniden sind benannt nach einem Meteorstrom – und diese Meteore sind Freitagabend auf der Vorschot-Bühne eingeschlagen. Als die Sonne das goldene Leoniden-Logo auf der Bühne erstrahlen lies, spielten die Leoniden Indie-Rock mit viel Synthie, noch mehr Energie und einer unglaublichen Begeisterung. Sänger Jakob Amr springt wie ein Flummi über die Bühne und Gitarrist Lennart dreht komplett durch: er schmeißt sich die Gitarre auf den Rücken, beißt ins Mikro, verknotet sich fast selber mit Kabeln und befreit sich gerade rechtzeitig, um seinen Part zu spielen.
Cigarettes after Sex
Die beste Beschreibung für den Sound von Cigarettes after Sex liefert ihr Bandname selber: Musik für die Zigarette danach. Die Ambient-Pop Band um Sänger Greg Gonzalez spielt intime, gefühlvolle Musik mit langsamen Drums, einer verträumten Gitarre und flächigen Sounds. Nicht gerade energiegeladene Gute-Laune-Party-Musik – aber vielleicht schaffen sie es gerade deshalb, dass die Dockville Fans bei jedem Lied dahinschmelzen. Dabei war die Bühne teilweise in so tiefen Nebel getaucht, dass die Band kaum noch zu sehen war.
Trettmann
Nicht auf der Hauptbühne, aber trotzdem der inoffizielle Headliner des ersten Festivaltages: Trettmann. Der deutsche Rapper/Sänger ist bekannt geworden durch seine Gastauftritte bei RAF Camora und Bonez MC – und aktuell sehr angesagt. Mit der 187 Straßenbande und allen Rappern, die in ihrem Sizzurp-Fahrwasser mitschwimmen, kann ich nichts anfangen, aber Trettmann ist eine Ausnahme. Er ist zwar Rapper, aber eigentlich singt er. Und das mit einer entspannten Singsang-Stimme, die irgendwie einlullend und hypnotisierend ist. Es ist etwas später, als er vermummt mit Kapuze, Cap und Sonnenbrille die Bühne betritt. Doch trotzdem feiern die Fans jedes Lied, jede Zeile jedes Wort. Spätestens als er seinen Hit „Knöcheltief“ spielt, hat wohl jeder Fan mitgesungen. Oder mitgerappt?
Wer war sonst noch da?
Nilüfer Yanya: Die talentierte Sängerin hat leider erst zu spät angefangen und konnte ihre atmosphärischen, verträumten Songs nicht so richtig auf die Bühne bringen. Joey Bargeld: der Hamburger hat zu harten Trap-Beats und Synthie-Sounds gerappt – alles etwas irre, aber auch alles etwas lustlos. Bonobo: wie immer mit sehr tanzbarer Downtempo-Musik, die er mit zahlreichen Live-Musikern und der wunderbaren Sängerin Szjerdene performt hat.
Das war Tag 1 auf dem MS Dockville 2018. Als nächstes berichten wir von Tag 2: Samstag. Heute spielen Acts wie Erobique, alt-J und Faber und vielen mehr. Stay tuned!