Vollblut-Musiker Steven Wilson überzeugt im Berliner Tempodrom


Steven Wilson
(Bild: Basslord Picturesstagr / Christoph Eisenmenger – Basslord Pictures)

Die Spitzen des Tempodroms ragen wie mächtige Eiszapfen in den wolkenlosen Nachthimmel Berlins. Ein Mix aus Streusalz und Restschnee knistert unter meinen Schuhen als ich zum ersten Mal in meinem Leben dieses ikonische Gebäude betrete. Steven Wilson heisst der Mann, der mich, meinen Fotografen Christoph und ca. 2.500 anderer Menschen an diesen kalten Montagabend hierher gebracht hat. Ich bin gespannt wie ein Flitzebogen auf diesen Abend, denn ich erlebe nicht nur das Tempodrom zum ersten Mal, sondern auch den Künstler selbst. Außer den euphorischen Beschreibungen von Christoph weiß ich nichts über Wilson, habe weder seine Musik gehört noch irgendeins seiner Videos gesehen – erkunde also nicht nur bei der Location absolutes Neuland. Ich freue mich mal wieder einen Gig auf diese Art zu erleben – so als volle Überraschung und ganz ohne Erwartungshaltungen. Naja, mal abgesehen von der Hoffnung einen neuen Lieblingsmusiker für mich zu entdecken, wie es das ja für Christoph schon passiert zu sein schien. Und natürlich ist auch die Hoffnung auf Gänsehaut wie bei jedem Gig mit dabei.

Das hohe, steil emporragende Dach des Tempodroms bietet eine imposante Kulisse für Wilson und seine 4-Köpfige Band. Jedoch beachtet man dies eher weniger, denn alle Blicke werden unweigerlich nach vorn auf die große Leinwand gelenkt, die die gesamte Bühne überragt. Sie ist, wie wir während des fast 3-stündigen Gigs feststellen sollen, ein ultimativ wichtiger Bestandteil des Showkonzeptes von Steven Wilson. Denn für fast jeden seiner progressiven Rock-Songs zeigt dieser uns emotionale Musikvideos – zum Teil gefilmt, zum Teil kunstvoll animiert. Die große visuelle Power dieser harmonisch auf die Musik angepassten Filme werden die ganze Zeit noch von einer imposanten Lichtshow unterstützt. Es ist wirklich eine wunderschöne Augenweide und man fühlt sich fast wie in einer bewegenden Kurzfilm-Kinovorstellung. Dieser Eindruck wird auch noch dadurch verstärkt, dass dies eine reine Sitzveranstaltung ist.

Bildergalerie: So war STEVEN WILSON live:

Ich bin kein großer Fan von Konzerten im Sitzen, da sie dem Publikum fast immer Energie rauben und die Band fast nichts zum interagieren bieten. Genau dies bemängelte auch ein allgemein sehr gut gelaunter, charmanter Wilson. In seinem sehr klaren warmen Englisch flehte er alle Zuschauer darum witzelnd an, sich beim „Sitztanzen“ extra stark ins Zeug zu legen – etwas zudem er das Publikum aber leider kaum anstacheln kann. Die Zeit vergeht überraschend schnell – wahrscheinlich auch weil die Songs und Filme oft fast nahtlos ineinander über gehen, etwas das die hohe musikalische Raffinesse von Wilson und seiner Band bezeugen und deshalb gerade Christoph sehr begeistert. Ich muss zugeben, dass ich den Abend bis jetzt zwar geniesse aber mich bis dahin nichts vom Hocker reissen konnte. Ich glaube dies ist jedoch reine Geschmacksache. Wilson’s Progressive Rock hat zwar oft „Wall of Sound“-Qualität, seine Stimme ist angenehm warm, dunkel und zuweilen hell, immer stark und voller Leidenschaft, seine Band talentiert und engagiert – aber trotzdem nichts das für mich in die Wow!-Gänsehautrichtung geht.

Während des etwa viertelstündigen Intervalls frage ich deshalb ein paar Mit-Konzertler über ihre Eindrücke. Ein freundlicher blondschöpfiger Wilson-Fan namens Christian (59) ist jedenfalls begeistert. Für ihn ist Wilson sogar die beste Entdeckung seit fünf Jahren. Dass dieses Statement nicht einfach aus der Luft gegriffen wäre, untermauert er mit dem Fakt, eine beeindruckende Sammlung von 20.000 CDs und 5.000 Platten sein Eigen nennen zu können – also ein Mann der sich auszukennen scheint. Connie und Harald – etwa im Alter unserer Eltern – ein liebenswürdiges Pärchen das auch wie ich Wilson noch nicht kannten und Ihre Tickets durch ein Magazin gewonnen hatten, lobten Wilsons atmosphärische Dichte.

Als mein fotografischer Begleiter Christoph zurück von der Bar kommt, verkündet er, dass ein Security-Mann ihm erzählt hätte einige Zuschauer seien schon nach Hause gegangen. Angeblich sei ihnen der Bass-Sound zu stark gewesen. Etwas dass ich als Bassliebhaber echt unverständlich finde und irgendwie luschig. Naja – über Geschmack …

Ich blicke mit Spannung auf die zweite Hälfte des Gigs. Würde es Wilson schaffen die Massen von ihren Sitzen zu reissen? Oder mir zumindest den Hauch von Gänsehaut zu verleihen? Ich empfinde zumindest, dass der schlanke, brillentragende langhaarige Wilson sein Tempo und Stil etwas knackiger werden lässt. Wie auch schon vorher zeigt er sein Talent abwechselnd an Gitarre und Keyboard oder nur mit seiner Stimme und nimmt sich in typisch Englischer Manier selbst öfters auf die Schippe – etwas was mir immer sympathisch ist. Er spielt – wie er ankündigt – vor allem Material von seinem nächsten Album, dass in Kürze erscheinen wird und immer mehr Menschen im Saale die Köpfe wackeln lässt. Bei einem Song kurz vor Ende denke ich sogar, wenn wir alle stehen würden, würden wir jetzt voll abgehen. Die Fans lieben diesen epischen Song und die kraftvollen gewaltigen Video-Projektionen, und es ist der langerwartete Turning-Point des Abends bei dem es die Masse endlich von ihren Stühlen reisst und Wilson und seine Band endlich eine wohlverdiente Standing-Ovation einheimsen.

Plötzlich jedoch wird diese hochenergetische Fahrt durch eine herzerwärmende kurze Ansprache unterbrochen, in der Wilson den Opfern der Terroranschläge in Paris und den jüngst verstorbenen Musiklegenden gedenkt. Als ein Zuschauer laut den Namen „Lemmy!“ brüllt, bin ich zum ersten Mal an diesem Abend so richtig berührt. Aber nicht der Motörhead-Legende Lemmy Kilmister, sondern David Bowie gilt der nächste Song. Gekonnt covert Wilson Bowie’s Klassiker „Space Oddity” mit seinem musikalischen Gast einer Sängerin namens Nanette. Sie hatte auch vorher schon ein paar Mal mit ihrer powervollen Stimme und ihrem elektrifizierendem Äußeren beeindrucken können. Für viele Gäste sicherlich ein musikalisches Highlight und ein weiterer echter Sitzeisbrecher. Stehend erleben wir das Ende dieses Gigs und verlassen den Saal mit gemischten Gefühlen.

Obwohl viele wirklich von der Band überzeugt waren, zieht es sie jetzt förmlich nach Haus, ihnen ist es am Ende doch etwas lang geworden. Ich für meinen Teil bin Steven Wilson dankbar für einen sehr unterhaltsamen visuell und akustisch gelungenen Abend trotz fehlender Gänsehaut. Und obwohl ich jetzt nicht unbedingt ein Fan geworden bin, hat mich Steve Wilson zumindest sehr neugierig auf seine musikalische Zukunft gemacht.“

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Audio-CD „4 1/2“, Vinyl LP „4 1/2“ oder MP3-Download „4 1/2“

Danke an:
Stefan Klenke (Text) und Christoph Eisenmenger (Fotos)