Alanis Morissette in Hamburg: 25-Jahr-Feier von „Jagged Little Pill“


Alanis Morissette in Hamburg 2022
(Bild: Cynthia Theisinger)

“25 Jahre… das kann nicht sein!” dachte ich 2020, als ich die erste Ankündigung für diese Tour las. Aber doch, einen Blick auf den Kalender und einen kurzen Schreck später bestätigte sich, dass es wirklich 25 Jahre her war, dass das Album „Jagged little pill“ das Licht der musikalischen Welt erblickte und die damals 21-jährige Alanis mit dem Megahit „Ironic“ die Charts der ganzen Welt stürmte. 25 Jahre, seitdem ich – damals 12 Jahre alt – zum ersten Mal „You oughta know“ hörte und mit meinem Wörterbuch (da war noch nix mit Google translator!) das Booklet übersetzte, weil ich ganz unbedingt wissen wollte, was diese wütende junge Frau mir zu sagen hatte. Seit ich akribisch meine Haare Zentimeter für Zentimeter lang züchtete und mit meinen Freundinnen zuhause die Kopfhörer unserer Discmans teilte, lauthals „It’s like raaaiiiaaaiiiin on you wedding dayyy…“ singend… unglaublich.

Die 2 Jahre Pandemie haben die Geburtstagstour im ersten Anlauf leider verhindert, doch es wurde nur aufgeschoben und nicht aufgehoben. Und nun sind es zwar schon 27 Jahre aber die Vorfreude, nun endlich gemeinsam zu feiern – live und ohne Einschränkungen – versprach fast eine noch größere Party. Barclays Arena in Hamburg bietet einen schönen Rahmen dafür und so machten wir uns am 14. Juni 2022 auf den Weg, zu einer kleinen musikalischen und emotionalen Zeitreise. Mein langes Haar hatte ich mir kurz bevor die Bestätigung kam, dass das Konzert nun wirklich stattfinden würde, leider gerade abgeschnitten. Isn’t it ironic?

Vor Ort angekommen stellten wir erstmal fest, dass Hamburg offenbar auf Stilbruch-Party steht, denn im Stadion nebenan gastierte parallel Rammstein. Spoiler: Unsere Befürchtung gleich „Thank you“ in der Neue-Deutsche-Härte-Version zu hören, wurde nicht wahr. Es gab keinerlei klangliche Beeinträchtigung. Als musikalische Unterstützung im Vorprogramm hatte man sich für die Britin Beth Orton entschieden, die pünktlich auf der Bühne stand und dem Publikum im bestuhlten Saal einen ansprechenden musikalischen Einstieg in den Abend bot. Weiterer Spoiler: Die Stühle nutzte bei Alanis keiner mehr.

Nicht ganz pünktlich aber sehnlichst erwartet fuhren um 21:15 Uhr die Lichter runter und auf 3 großen Leinwänden erschienen als Intro Sequenzen aus Alanis‘ Leben und Karriere, Ausschnitte aus Videos, Auditions, Castings in dem Menschen ihre Songs singen mit der Message unterlegt, wie sehr dieses Album viele Menschen beeinflusst hat, sowie Ausschnitte aus dem Musical „Jagged little Pill“. Und als dann die wohlvertrauten ersten Mundharmonikatöne von „All I really want“ ertönten, gab es kein Halten mehr. Wie abgesprochen sprang das gesamte Publikum einheitlich aus den Sitzen und frenetischer Jubel begrüßte die kleine Powerfrau, auf die wir so lange warten mussten. Mit dem Opener des Albums auch die Show zu eröffnen war definitiv ein kluger Schachzug, denn ab Song 1 hatte jeder der Anwesenden offensichtlich seine eigenen Erinnerungen an diese Zeit, dieses Album, diese Songs vor Augen. „Hand in my pocket“ und „Right through you“ ließen keine Chance, sich wieder hinzusetzen. Es wurde getanzt und mitgesungen was das Zeug hält. Nach all der Zeit hat keiner der Songs irgendetwas von seinem Zauber verloren und „You learn“ macht so viele Jahre später im Kopf noch einmal viel mehr und ganz anderen Sinn stelle ich fest. Alanis strahlt wie eh und je, das breite Lächeln ist immer noch ihr Markenzeichen. Auch wenn ihr Haar mittlerweile blond ist und das knallorange Oversize-Shirt auch im ersten Moment auch nicht das ist was man von ihr erwartet hat. Sie hält sich nicht mit langen Ansagen auf und verwendet ihre Energie lieber dafür, von einem Ende der Bühne zum anderen zu laufen, immer und immer wieder, während sie singt, lacht, die Stimme überschlagen lässt wie es keine andere kann. Als sie die ersten Worte von „Hands clean“ singt, kam der Gedanke „Oh, doch was neueres..“ gar nicht dazu, zu Ende gedacht zu werden, denn geschickt verflocht sie plötzlich die Melodie mit „Forgiven“. Ein toller musikalischer Move, den sie im Laufe des Abends noch öfter bringen würde. Expect the unexpected.

Nachdem mit „Mary Jane“ ein paar tragischere Tönchen angeschlagen wurden, kamen wir musikalisch plötzlich in der Gegenwart an. „Reasons I drink“ war die erste Single ihres letzten, 2020 erschienenen Albums „Such pretty forks in the road“. Zwischen diesem und dem ersten Album liegen 25 Jahre, 3 Kinder, diverse Studio- und live-Alben, so wie Auftritte in Film und Fernsehen – unvergessen ihre Rolle als Gott in Dogma. Und da sie noch nie ein Geheimnis aus ihrem Seelenleben gemacht hat, sondern es uns eher rockig verpackt um die Ohren haut, gibt auch dieser Song, ebenso wie das folgende „Smiling“, tiefe Einblicke in ihre Gefühlswelt, zeigt den Kampf mit inneren Dämonen, Depression, Ängsten. Unfassbar wie großartig man solch düstere Themen musikalisch so wundervoll verpacken kann. Doch eine Zeile betont sie an diesem Abend irgendwie besonders: „My mission is to keep the light in your eyes ablaze…“ Und das schafft sie! Begleitet von grandiosen Instrumentalisten und einer stimmigen Lichtshow präsentiert sie spezielle Versionen von „Perfect“, „Wake up“ und „Not the doctor“, jeweils im Mix mit anderen bekannten Songs. Als dann „You oughta know“ auf dem Plan stand, gab es Alanis in Reinform. Der wütende Gesang, das Schleudern der Haare, das auf und ab rennen auf der Bühne – als wäre seit 1995 kein einziger Tag vergangen. Es folgte das gesangliche Highlight des Abends, als alle Anwesenden gemeinsam den Refrain von „Ironic“ in Richtung der Bühne brüllten. Anders kann man es nicht sagen, denn die gesammelte Freude überschlug sich in diesen 3 Minuten fast und ließ keinen Platz für Scham oder stimmliche Korrekturen. Man kann nur hoffen, dass Alanis‘ musikalische Gehör keinen Schaden davontrug. Aber ihr strahlendes Lachen zeigte, dass die Freude auf ihrer Seite genauso groß war.

Unter frenetischem Jubel verließ sie mit den Musikern die Bühne, um sich natürlich noch einmal herausapplaudieren zu lassen. Der Abend durfte einfach noch nicht zu Ende sein und so gab es zum großen Amüsement aller Anwesenden eine sehr spezielle Version von „Your house“ in 5 verschiedenen Stilrichtungen, von Swing über Disco bis Jazz. Dann wurde es plötzlich dunkel und mucksmäuschenstill, als der Pianist die ersten Töne von „Uninvited“ anschlug.. wow, das geht nochmal voll an die emotionale Substanz. Singen, schreien, flüstern mit abschließendem Instrumentalpart machen noch einmal deutlich, warum Alanis eine so bedeutende Künstlerin ihrer Zeit ist – das war ganz großes Kino. Den Ausstand gibt sie passend mit „Thank you“, denn mehr gibt es eigentlich am Ende dieses Abends nicht zu sagen. DANKE Alanis, für „Jagged little pill“, für diesen Abend voller Emotion und Erinnerung, für 27 Jahre voll großartiger Musik, dafür dass du dich nie angepasst hast, sondern immer die Künstlerin geblieben bist, die wir lieben: Deutlich, wütend, melodisch, melancholisch, strahlend, eigen.

Als sie die Bühne verlässt, sieht sie aus, wie sie schon damals in Dogma beschrieben wurde: Wie eine höchst erfreute, kleine Gottheit. Und ich gehe so, wie es sich nach so einem Abend gehört: with one hand in my pocket and the other one giving a peace sign…

1. All I Really Want
2. Hand in My Pocket
3. Right Through You
4. You Learn
5. Hands Clean
6. Forgiven
7. Everything
8. Mary Jane
9. Diagnosis
10. Reasons I Drink
11. Head Over Feet
12. So Unsexy
13. Ablaze
14. Nemesis
15. Perfect
16. Losing the Plot
17. Wake Up
18. Not the Doctor
19. Ironic
20. Sympathetic Character
21. Smiling
22. I Remain
23. You Oughta Know

Encore
24. Your House
25. Uninvited
26. Thank U