Smartphone-Romantik: Shawn Mendes in Hamburg


In jeder Schule gibt es diesen Typ, den jeder mag: die Mädels und die Jungs, die Schulhofschläger und die Streber, die Metal-Fans und die Hip-Hop-Heads, die Schüler und die Lehrer. Schwarm aller Mädels, Buddy aller Jungs. Er ist auf jede Party eingeladen, aber trotzdem Klassenbester in Mathe. Nett aber cool. Man will ihn hassen, kann aber nicht. Wie ein solcher Typ wirkt auch Shawn Mendes auf mich, der am Samstag in der Barclaycard Arena in Hamburg aufgetreten ist.

Ich geh mal davon aus, dass 99 % der Leser dieses Berichts den Stimmbruch hinter sich haben und damit nicht zu seinen Fans gehören – und dementsprechend wenig über ihn wissen. Hier ein paar Infos, damit ihr wisst, mir wem ihr es zu tun habt. Shawn Mendes ist ein Popsänger aus Pickering, einem Vorort von Toronto. Fun Fact für alle Hamburger: In Pickering gibt es die verlassene Geisterstadt „Altona“, die tatsächlich nach unserem Altona benannt wurde. Warum? Das müsst ihr Shawn fragen.


Shawn Mendes ist gerade mal 18 Jahre alt und schon Weltstar. Eine Internet-Sensation wie Justin Bieber, nur mit weniger Tattoos. Während man früher 10 Jahre in schimmeligen Spelunken vor einer Handvoll Betrunkener zu spielen musste, um über die Stadtgrenzen hinaus bekannt zu werden, ging das bei Shawn etwas schneller: 2013 mit einen Adele Cover auf YouTube, 2014 mit der Debütsingle „Life of the Party“ in den Billboard Charts. Ein Jahr später landet sein erstes Album „Handwritten“ in den USA und Kanada auf Platz 1, sein zweites Album „Illuminate“ auch.

Und heute? Über 500 Millionen Views auf Vine, insgesamt 10 Millionen Abonnenten auf YouTube, fast 22 Millionen Abonnenten auf Instagram. Kurzer Check: größtenteils Fotos von Konzerten, Musik, Tourleben. Immerhin. Justin Bieber postet ein Foto von einem grauen Sandhaufen und bekommt 1,8 Millionen Likes und Comments wie „Love it“. Muss man nicht verstehen. Shawn begeistert seine Fans lieber mit Musik: Pop, Folk-Pop, Pop-Rock, Party-Pop, Hauptsache Pop. Viel Akustikgitarre, ein bisschen Klavier, ein paar Partyhymnen zum Mitsingen, größtenteils aber schmachtige Liebeslieder. Wie die Teenager dazu reihenweise in Ohnmacht fallen, will ich mir heute live anschauen.

Es ist Samstag und Shawn Mendes spielt in der Hamburger Barclaycard Arena. Ein Blick in die Ränge: die Halle ist bis unters Dach besetzt. Fast ausschließlich mit jungen Teeniemädels, die von ihren Eltern begleitet werden. Schon bevor es losgeht, ist die Aufregung groß. Niemanden hält es auf den Sitzen, nur die Eltern harren müde ihren Plätzen aus. Eine Laola-Welle rollt durch die Halle, wieder und wieder und wieder.

Um 20:30 dann der Moment auf den alle gewartet haben: Shawn Mendes betritt die Bühne! Die Anspannung entlädt sich schlagartig in einem schrillen Kreischkonzert. Die Halle eskaliert. Wie konnte ich nur so blöd sein, gerade heute meine Ohropax vergessen zu haben? Hallo Tinnitus, lang ist’s her!

Shawn fackelt nicht lange und spielt auf seiner Gitarre „There’s Nothing Holding Me Back“. Das textsichere Teenie-Publikum kennt jede Zeile und singt und kreischt und schreit euphorisch mit. Die dunkle Halle ist gesprenkelt mir unzähligen, grünen Punkten: leuchtende Armbänder, die eine deutsche Versicherung als Promo verteilt hat. Die grünen Lichter bewegen sich im Takt hin und her wie verliebte Glühwürmchen. Plötzlich kreischt ein Mädchen hinter mir „I LOVE YOU!“ und ich zucke zusammen. Was mache ich, wenn die in Ohnmacht fällt? Wie geht noch mal die stabile Seitenlage?

Weiter geht’s mit dem Song „Lights on“. Als Shawn im Refrain „I wanna love you with the lights on …“ ins Mikro haucht, schütteln die Eltern um mich herum fassungslos den Kopf. Einige von ihnen gründen vielleicht später Selbsthilfegruppen, um dieses Erlebnis im Gesprächskreis zu verarbeiten. Als die Romantik ihren Höhepunkt erreicht, leuchten unzählige, weiße Lichter im Publikum auf: ein Lichtermeer aus Smartphones mit Taschenlampen-Funktion, die statt Feuerzeugen in die Luft gehalten werden. Was soll ich dazu sagen? Das ist irgendwie nicht dasselbe. Keine Wärme, nur kühle Smartphone-Romantik.

Im weiteren Verlauf des Abends spielt Shawn all die Hits, die Teenieherzen höher schlagen lassen: „The Weight“ „A Little Too Much“ “Ruin“, „Life Of The Party“, „Bad Reputation“, natürlich „Stitches“ und und und. Ein Highlight des Abends war sicherlich noch der Moment, als Shawn auf einer kleinen, runden Bühne mitten im Publikum erscheint und unter anderem den Song „Three Empty Words“ spielt. Jetzt bin auch ich auf meinen Tribünenplatz ganz nah dran. Das I-LOVE-YOU-Mädel hinter mir kann’s kaum fassen und kreischt sich die Seele aus dem Leib. Die hat morgen sicherlich keine Stimme mehr. Aber keine Sorge, Mutti macht bestimmt gerne eine Tasse warme Milch mit Honig.