Sido gibt Vollgas in Göttingen – mit Motrip, Joka, Estikay & B-Tight


Sido
(Bild: Johanna Edler / the PlaceMagazin)

Göttingen. Bei Außentemperaturen um den Gefrierpunkt heizen Sido, Estikay, Joka und Co. die Lokhalle Göttingen auf Wohlfühltemperatur ein. Nachdem das Konzert um neun Monate aufgeschoben wurde, warteten eine ganze Reihe Fans im Schneeregen auf Einlass, der sich durch die ziemlich sorgfältige Kontrolle etwas hinzog. Dadurch wurde ganz zum Ärger der insbesondere weiblichen Fans die Handtasche um gefährliche Utensilien wie Haarbürste, Crèmes und anderen Pflegeartikeln erleichtert. Selbstverständlich ohne Garantie die Sachen später zurückzubekommen. Unter diesem Umständen dürfte der Abend für einige weit teurer geworden sein, als die ca. 40,- Euro für die Eintrittskarte. Schlechte Laune inklusive.

Damit hatte Joka die wohl etwas undankbare Aufgabe die Gemüter wieder etwas zu kühlen, was Track für Track aber bestens gut gelang. 20 Minuten lang gab er alles, ehe er die Bühne für MoTrip räumte der im Feature mit B-Tight auch alte Klassiker wie „Wer hat das Gras weggeraucht“ performte. Direkt war die Stimmung vor der Bühne wieder gehoben und Kälte, Einlasskontrolle sowie Wartezeit vergessen. Immer wieder wurde zwischen den Songs dem „Großmeister Sido“ gehuldigt und sich dafür bedankt, vor ihm auf der Bühne stehen zu dürfen.

Bildergalerie: So waren MOTRIP & JOKA live:

Dem Großmeister machen Sie dann auch recht zügig nach gefühlt recht wenigen Tracks Platz auf der Bühne. Nach minimaler Umbauzeit zeigt das Bühnen-Setup was es kann. Die in zwei Reihen, halbrund angeordneten LCD-Displays werfen dem Publikum eine Explosion an Farben entgegen, die bisher unscheinbaren Moving-Heads erwachen und bauen eine Wand aus Licht vor dem am hinteren Ende der Bühne stehenden Paul Würdig auf. Zum Song „Für Ewig“ tritt Sido noch recht verhüllt unter Cap, Kapuze und die Augen hinter einer großen Sonnenbrille verborgen auf. Dennoch wesentlich sympathischer, als die Maske mit der er bekannt wurde. Es folgen „Löwenzahn“ und Strophe für Strophe von Joka, Estikay und MoTrip begleitet „Selfie“ vom Album VI. Nach den drei Openern folgen eine ganze Reihe Tracks für die langen Wegbegleiter und alten Fans aus der Zeit mit der Maske. „Den kennt ihr noch, wa?“, ist häufig die Frage nach den ersten Beats und das Publikum johlt wieder und wieder auf.

Eine so große Videowall kann nicht nur für zum Song passende visuelle Begleitung genutzt werden, sondern ist auch für Videoeinspieler zwischen den Tracks hervorragend geeignet. Während Sido hinter der Bühne ein Schluck Wasser zu sich nehmen kann, ist das gezeigte Video eine gute Idee die dazu noch hervorragend Umgesetzt wurde: Ein langer Gang, rückwärtige Kameraführung. Auf dem Weg zur Bühne, so geht aus dem Gespräch zwischen Paul Würdig und augenscheinlich seinem Manager hervor, gibt es kurze Pausen im Fitnessraum, in der Kantine um ein happen zu Essen und zuletzt die Flasche Jägermeister die Sido dann im Monolog mit sich selber doch vorerst unangetastet lässt. Kamerawechsel, Sido geht durch eine grüne Tür, tritt hindurch, das Bühnenlicht flammt wieder auf und er steht leibhaftig vor uns um „Einer dieser Steine“ im feature mit Mark Forster zu spielen. So ganz scheint der Appetit auf Jägermeister dann aber doch nicht vergangen und Sido verlang nach eben diesem Getränk, das Ihm promt gebracht wird. Ein Jägermeister? Es darf dann doch die ganze Flasche sein. Crewmitglied Alexander gehorcht und es ist genug Schluck da um „Prost Leute“ zu rufen, bis auch die letzten im Publikum verstanden haben, dass mit „Prost Sido“ zu antworten ist.

Bildergalerie: So waren SIDO live:

Da alleine Trinken aber nicht nett ist gibt es zum während des nächsten Stücks „Der Himmel soll warten“ dann eine großzügige Ladung Jägermeister, serviert in Schnapsgläsern, für die erste Reihe. Aber Crewmitglied Alexander hat auf das Alter zu achten, die Schülerausweise soll er sich zeigen lassen, bittet Sido noch angesichts des recht jungen Publikums. Man will ja kein Ärger haben. Begleitet wird „Der Himmel soll warten“ von zwei zusätzlichen Stimmen am Mikrofon und einem, hydraulisch aus dem hinteren Bühnenbereich gehobenen Piano. Sido hat seine Wurzeln nicht vergessen, als am Piano und von der hinzugekommenen Sängerin Helene Fischers Atemlos angestimmt wird und das Publikum mitfeiert, holt er zum verbalen Fressbrett polieren aus.
Ob das die junge Dame da vorne das ernst meine, so mitzugehen? Ehe Sido sich aber in Rage redet erklingt vom Piano das Intro vom Arschficksong und wieder rastet das Publikum förmlich aus, ehe Sido den klängen Einhalt gebietet. „Arschficksong“ wollt Ihr hören, ja?“, fragt er in die Menge.

Die Antwort liegt auf hunderten Zungen. „Nene, ist nicht. Nicht nach der Aktion gerade. Und bedanken, naja, da vorne in der ersten Reihe. Deine Schuld, wenn’s kein Arschfick gibt heute.“ Aller Seriosität zum trotz, das Haten hat er nicht verlernt. Wesentlich versönlicher ist dann aber „Zuhause ist die Welt noch in Ordnung“, das ebenfalls vom Piano begleitet sanft-melodisch fast schon Feuerzeug-Romantik erzeugt. Trotz der ganzen Zigaretten und Joints im Publikum erhellen aber lediglich einige wenige Smartphones, auf der die Videofunktion das LED-Licht aktiviert, die Rücken einiger Besucher. Versöhnlich mit dem Publikum geht es mit einem Spiel weiter, geradezu einfach die Regeln: ein Jägermeister, vorne in die erste Reihe gereicht soll durch die Menge gereicht werden und jener, der trinken mag die Hand heben und genießen. Nicht ein mal wechselt der Jägermeister seinen Besitzer und Sido läuft zur Höchstform auf. Wie er den heiße, der nicht teilen mag. Soso, Lukas also. „Lukas, du bist ein asoziales Arschloch.“

„Teilen liegt nicht in deiner Natur, hä?“. Das um den Jägermeister geprellte Publikum feiert. „Na los, wenn du schon trinkst, du kennst das Spiel! Alleine! Prost Leute.“ Stille. Ob jemand die Antwort von Lukas gehört hätte? Nein? „Schade, kaum drei Haare am Sack, wie alt bist du eigentlich?“ So geht das noch eine ganze Weile weiter, aber es scheint dazu zu gehören, den Schwächeren noch mehr zu schwächen. „Business as usual“ könnte man sagen. Der nächste Track „Eier“ wird von Estikay begleitet, von dem Sido, so sagt er nach dem Song echt viel hält und den er echt gerne mag. Der Nummer eins Hit im Radio wird nicht einfach nur begonnen, runtergerapt und fertig. In einem ergreifenden Trailer werden Videoausschnitte gezeigt die irgendwo auf den Flüchtlingsrouten nach Europa entstanden sein müssen. Nicht irgendwelche Ausschnitte. Keine Toten, aber solche die in einem Bild die Not in Form von heruntergekommenen Zelten gezeigt wird während im Hintergrund strahlend weiße Baukräne einen riesigen Zaun errichten. Grenzkontrollen. Allesamt Videoausschnitte die in der FAZ, dem Spiegel, auf n-tv und schon gar nicht in der Bild gezeigt wurden.

REFUGEES WELCOME, dieser Schriftzug beendet das Video und das Intro zu „Astronaut“ füllt die Halle. Jeder zweite scheint gerade ein Video auf sein Smartphone zu bannen, anstatt diesen Song, welcher den Sido ohne Maske wohl besser beschreibt wie kaum ein anderer vom sechsten Studioalbum, zu genießen. Unter großem Applaus stellt Sido Andreas Bourani vor, als der Song endet. „Tja Leute, das war’s. Der Letzte Song für heute: „Boombidibyebye“ . Auf der Bühne wird es anschließend dunkel. Lange erklingen Chöre mit „Zugabe“ -Rufen oder „Arschficksong“ ehe irgendwann B-Tight, MoTrip, Estikay, Joka und schließlich auch Sido für „Panorama“ nochmal auf der Bühne stehen. Damit von diesem Abend nichts in Vergessenheit gerät, dürfte auch heute ein neues Bild in das schwarze Fotoalbum mit dem silbernen Knopf geklebt werden. Fein säuberlich geordnet, sollen Sie sein diese „Bilder im Kopf“. Da kann man nur hoffen, dass der kleine Paul Würdig damals nur eine Tube Gleitcreme und keine Kamera mit zu Katrin genommen hat. Manche Bilder bleiben wohl besser nur im Kopf.

Die Performance des letzten Song an diesem kühlen aber schönen Abend, der lange geforderte „Arschficksong“ , darf dann aber wieder bei allen Fans ins Fotoalbum geklebt werden. Mit strahlenden Gesichtern schiebt sich die Zusammenkunft von Hip-Hop-Fans wieder in die Kälte. Als jemand der damals sein Herz, gerade wegen Tracks wie „Fuffies im Club“ , eben jenem Song in dem es um Katrin geht und anderen teils Personen oder Personengruppen diffamierender Lieder, eher mit Stromgitarren und Schlagzeug unterlegten Sounds geschenkt hat bin ich an diesem Abend mit Freude hier gewesen. Natürlich muss man beachten, dass der Erfolg auf eben diesen Liedern fußt und dennoch ist Sido mit 30-11-80 und VI alltagstauglich geworden. Ohne Maske, in der Vaterrolle schaut er auf das große Ganze. Nicht als Hater sondern als Dichter und Denker. Und gerade das ist so sehr beeindruckend, als das man die #liebetour uneingeschränkt empfehlen kann.

In diesem Sinne: Prost Sido!