Seit etlichen Wochen hat das COVID-19-Virus, auch Coronavirus genannt, das globale Geschehen in der Hand. Auch wenn es dem Festival- und Konzertherz weh tut: unzählige Konzerte wurden bereits abgesagt und viele Festivals wird es wohl auch treffen. Zu recht! Im Zuge der Pandemie müssen Künstler*innen umso kreativer sein, um ihre individuelle und existenzbedrohende Durststrecke zu überwinden. Die Durchstarter vom Hämatom aus Franken haben sich die Möglichkeiten des Internets zu Eigen gemacht und einen Maskenball in Quarantäne durchgeführt. Heißt, sie haben ein Live-Konzert über Youtube gestreamt. Was vielleicht nach einem Proberaum-Konzert klingt, entwickelte sich allerdings beim Starten des Streams als professionelle Konzert-Produktion – leider ohne Publikum.
Schon vor dem Beginn des Iso-Konzerts ließ Sänger Torsten „Nord“ Scharf verlautbaren, dass Sicherheit das Maß aller Dinger zurzeit ist. Frei nach dem Motto #stayathome forderte die Band alle dazu auf, mit dem A*sch daheim zu bleiben. Die „Stage“ komplett mit Folie isoliert, um alle Tropfen abzufangen, die eventuell den gefährlichen Virus inne haben, wurden die Musiker von einem Kamerateam in Schutzmontur begleitet.
„Anti Alles“ eröffnete das isolierte Set. Auch die Stage Hands waren in Schutzklamotten unterwegs. Vorbildlicher geht es einfach nicht! Energetisch ging es mit „Scheisse Aber Glücklich“ weiter. Zwischen den beiden Songs fehlte aber das massive Jubeln der treuen Fans vom Hämatom. Aber da tausende Menschen den Stream verfolgten, muss sich das einfach im Kopf vorgestellt werden (leider). Unbeirrt prügelten die Mannen ihren Ohrwurm „Ich Hasse Dich Zu Lieben“ dem streamenden Publikum um die Ohren. Mit Ansage trällerten diverse Fans die Lieder mit und ergötzten damit ihre Nachbarschaft. Nach dem dritten Song des Abends folgte die erste Ansage von Nord:
„Gleich hier appellierte er an alle Zuschauer*innen: Bleibt daheim!
Mit solcher Live-Energie kann auch die härteste Zeit überstanden werden. Eine besondere Beobachtung war, dass die Band genau so dynamisch agierte, wie sonst in ausverkauften Hallen. „Mein Leben, Meine Regeln“ wurde als nächstes los geprügelt. Auch wenn das Live-Konzert nur am Monitor, am Smartphone oder TV-Bildschirm mit APP zu verfolgen war, kam die Ausstrahlung der Band und ihre gesamte Dynamik, auch unter den besonderen Umständen, wirklich authentisch an.
Enthusiastisch wurde das Publikum an den Empfangsgeräten zum Mitmachen animiert. Auch wenn der folgende Track Verbundenheit zu den Fans aus-drückt, bekam auf Grund des isolierten Konzerts eine vollkommen andere Bedeutung. „Wir Sind Keine Band (Wir Sind Familie)“ sprach auf vielen Ebenen an, dass die Freundschaft zwischen Band und Fans tief und innig wirkt. Es wird aufeinander aufgepasst und alleine ist keiner. „Auch ihr zuhause könnt die Hände in die Luft heben“ – Nord schaffte es sehr professionell mit der Situation umzugehen. Auch Süd, Ost und West lebten ihre Live-Energie aus. Das muss erst einmal geschafft werden.
Hämatom zeigten auch demonstrativ, dass Cover teilweise mit Verzerrung ordentlich Druck und Power freisetzen können. Ihr Cover „Kids“ vom Rostocker Künstler Marteria ist nur ein Beispiel dafür. Tiefere Bedeutung lässt sich aber im zeitgenössischen Kontext erkennen, dass Langeweile tatsächlich bei einer fortwährenden Isolation zu einem durchaus relevanten Problem werden kann. Schade, dass das eine Gesellschaft erst unter solchen Umständen lernen muss. Mit einem elektrischen Stuhl wurden keine Zweifel gelassen – der Song „Mörder“ wurde als nächstes performt. Tatsächlich war es ein wirklich erfüllender Moment zu sehen, dass die Band auch unter den gegebenen Umständen ihre Liveshow auch hier umgesetzt hat.
„Und jetzt, liebe Freunde zuhause, packt ihr auch, auch wenn ihr zuhause seid meine ich damit, packt mal schön eure Feuerzeuge aus, aber fackelt die Bude nicht ab!“, auch die Ansagen waren perfekt auf die außerordentliche Situation abgestimmt.
Die private Lichterstimmung begleitete die akustische Hymne Lichterloh. Nun würden ansonsten abertausende Arme in den großen Hallen im Takt wippen, Smartphone-Lichter würden leuchten und Feuerzeuge brennen. Nun muss man sich auch das vor dem geistige Auge vorstellen oder an bereits erlebte Konzerte sich zurückerinnern. Als Nord dann Pyros zündete, das Mitsingen und Interagieren mit dem Publikum simulierte, sprang der letzte Funke der Live-Energie über. So lässt sich der Entzug an Livemusik etwas aushalten. Ob sich andere Bands daran auch ein Beispiel nehmen? Hoffen wir es!
„Eva“, die Hymne der Band an die zweite Frau Adams und eine Huldigung an die Verlockung am Sündenfall, durfte im Maskenball nicht fehlen. Auch wenn dieser in Quarantäne stattfand. Ohne Sünde wäre es halt doch wirklich sehr langweilig. Einen richtigen Klassiker der Hard Rock-Geschichte zimmerten die Franken mit „I Want It All“ heraus. Das Queen-Cover dürfte bei so einigen Mehrfamilienhäusern, bei Nachbarn und Mitbewohner*innen, Freunden und Co. zum Mitsingen animiert haben.
„Und von einem Virus zu einem noch viel schlimmeren Virus. Es ist die rechte Scheisse in unserem Land, auf unserer ganzen Welt. Und gegen diese rechte Scheisse gibt’s es diesen nächsten Song: Es Sind Alles Wehleidige Monster!“
Damit sprechen die Franken ein gewaltiges Problem an. Auch, wenn das Coronavirus eine Bedrohung für die Menschheit darstellt, ist der Kampf gegen des Faschismus, Rassismus und Sexismus ein nicht minderer Kampf gegen eine Bedrohung für die Menschheit. Nur wer für seine Mitmenschen einsteht ist eben kein Arschloch. Nicht weniger politisch und akustisch ging es mit „Engeln Lügen Doch“ weiter. Egal ob sterbende Kinder in den Bürgerkriegen dieser Welt, egal ob Menschenhandel oder moderne Sklaverei – der Song ist ein Spiegelbild dafür, wie viele Probleme die Wohlstandsgesellschaft im Westen ignoriert oder nur halbherzig angeht.
Mit dem Song „Alte Liebe rostet Nicht“ griffen die Himmelsrichtungen wieder in die Rubrik des Songs, bei denen die Refrains beim ersten Hören sofort im Ohr bleiben. Temporeich und nassgeschwitzt ließen die Speichersdorfer kein langes Haar ungeschüttelt. Und so hoffen wir, dass der Frühling wieder Normalität garantiert und wir diese großartige Band wieder in großen Hallen und Bühnen der zahlreichen Open Air Festivals sehen können. Sich zu helfen wissen ist die Devise unserer Zeit.
Einen gewaltigen Tritt ins Gesicht verteilten Hämatom anschließend mit „Fick Das System“. Dieser Song wird ansonsten im Chorus lautstark vom Publikum mitgesungen. Also ein prädestinierter Track für die Bühne. Und auch bei dem enormen Maß an Professionalität, merkt man auch den Experten von Hämatom an, dass auch sie schwer mit der Krise der Pandemie zu kämpfen haben. Aber wenigstens versuchen sie das Beste daraus zu machen.
Auch, wenn Trailerpark gegen alle gesellschaftlichen Konventionen den F*cker zeigte, klingen sie mit E-Gitarre noch eine Spur aggressiver. Das Cover „Bleib In Der Schule“, eben von Trailerpark, brachte nochmal eine gewaltige Ladung Spaß und Parodie in die Räumlichkeiten aller, die das Konzerten Live streamten, mit einer geballten Ladung Headbang-Kapazität. Leider, leider, leider war der Evergreen „Wir Sind Gott“ dann der Abschluss des Quarantänen-Maskenballs. Auch hier wurde das Internet-Publikum abermals animiert komplett zu eskalieren. Und egal ob vor tausenden Menschen oder eben nur direkt vor der Crew. Hämatom bleiben sich treu und lassen sich nicht unterkriegen.
#stayathome
Trotzdem bleibt bei allem revolutionären Gedankengut und anderweitigen Ideen die Message die Gleiche: Bitte bleibt, wenn möglich, zuhause. Mir persönlich wird das Virus hoffentlich keinen lebensbedrohlichen Schaden zu fügen. Aber meinen Eltern, meiner Familie und allen, die zur Gruppe der Betroffenen zählen schon. Als Zwischenwirt kriegst du eben nicht mit, ob du Überträger bist. Ausgangssperren mögen nerven. Seine Eltern, Tanten, Onkels, Großeltern und alle die man kennt, die zur älteren Generation zählen, zu beerdigen, ficken dich richtig. Vor allem, wenn man selber was zur Unterbrechung der Infektionskette beitragen kann. Informiert euch beim Robert-Koch-Institut und haltet euch bitte an die Richtlinien eures Bundeslandes.
Fotos: Instagram Live-Stream vom 21. März 2020