Es ist Mittwoch, der 9te Oktober. Der Regen spült das Publikum ins Capitol Hannover. Auftritt Einstürzende Neubauten. Blixa Bargeld, die düstere Eminenz, ein Glitzern in den Wimpernkranz eingewebt, den Schalk im Nacken, die Lässigkeit in Person. Die Rampen so hoch gestapelt wie die Erwartungen des Publikums, das gespannt das Quintett plus eins begrüßt. Um es vorwegzunehmen, sie werden nicht enttäuscht, sie werden übertroffen.
So manche:r hier im Publikum mag sich an Zeiten erinnern, da die Neubauten noch nicht mal einen Proberaum hatten und im hippieesken Friesenhagen im ausgebauten Hühnerstall der Scherben Raum zum Proben finden („Musik ist eine Waffe“ (4/8) Land in Sicht, feat. Blixa Bargeld). Zeiten, die von Chaos und Improvisation auf allen Ebenen geprägt sind.
Zeiten, die präsent sind, wenn Blixa Bargeld über das Bühneninventar scherzt, „Wir hatten lange keinen Einkaufswagen.“ Heute mag man diesen, der hier und heute noch seine akustische Qualität entfalten wird, metaphorisch mit Stichworten wie Konsumkritik überladen. Konkret passt er so gut ins Neubauten-Universum wie Druckluftpistole, Tankkanister, Becherbrummkreisel, KG-Rohre und andere Baumarktutensilien, denen man einen Tonabnehmer verpassen kann.
„Egal welchen Rumpel die Neubauten zusammenbasteln,
der Sound ist auf den Punkt.“
Alles Klangkörper.
Alles Klang, alles Körper
Alles isso, isso.
Echt.
Man darf vermuten, dass das nicht nur für den heutigen Abend im Capitol zutrifft. Das Schlagbohrerchaos ihrer Anfänge hat sich in eine perpetuierte Pedanterie verwandelt, die dabei vollkommen unberechenbar scheint.
Ob Alexander Hackes barfüßiges Bassspiel, Unruhs Industrial Percussions, Arbeits Saitenspiel, all das, was Rudolf Mosers mit seinen Sticks bearbeitet oder was Felix Gebhard an Soundbett an den Keys ausbreitet – alles echt. Echt krass. Diese „alien pop musicans“ , Multiinstrumentalisten und Soundfetischisten möblieren nicht einfach Lieder, die sie auf Tour einfach noch mal durchlüften. Einstürzenden Neubauten zäumen das Komponieren von hinten auf, machen aus ihren Liveimprovisationen – ihren (Abschuss)Rampen – Studioversionen, die auf Platte gepresst ein Oeuvre ergeben, dessen Essenz darin besteht, niemals einen Istzustand zu erreichen. Schwer zu sagen also, ob die Rampen dieser Tour Huhn, Ei oder beides sind. Und dann kreischt Blixa Bargeld sphärisch und kratzt mal eben ein Gänsehäutchen aus dem Moment, erzählt von einem Flickenteppich, einem Stück vom neuen Album, das aus einer Improvisation entstanden, sich an der Unterseite eines extrem hässlichen Teppichs abarbeitet, bevor die Band – im Laufe der Arbeit an diesem Song – gemerkt habe, dass mehr darin stecke. Der Flickenteppich, den wir mit dem leeren Terminus „Identität“ verknüpfen, ist „schlecht verhäkelt auf Verdacht“. Blixa Bargeld hat ihn seinem Kind, seinem gewordenen Sohn zugedacht. So stolz und wahrhaftig.
„Korrigieren wir das Bild
Neu geknüpft nicht neu verhandelt
Wir klinken uns aus der Entwicklung
Wir klinken uns aus der Evolution
Vorwärts rückwärts in allen Schatten
Undenk- und Möglichkeiten
Wir üben das Neue
…
Als Sintwesen
Vielwesenheiten.
Wo vorher keine Tür war,
Da mache ich dir jetzt auf.“ (Gesundbrunnen)
So achtsam wie Blixa Bargeld seine Gedanken zum vieldeutig klugqueeren Stück „Gesundbrunnen“ in den Abend webt, so leicht und lakonisch kommen die Geschichten zur Expo 86 in Vancouver (Kanada) und einem ungesungenen Duett mit Patricia Kaas daher, die in den ersten Zugaben-Block eingewoben den minimalistischsten Break-Up-Song „besser isses“ ankündigen.
Fassen wir zusammen:
Humor können die.
Authentizität können die.
Dynamik können die.
Klug können die.
Orchestral können die.
Dramaturgie können die.
Alles in allem ein unerwartet diszipliniertes, pointiertes und unanstrengend bombastisches Konzert, mit dem sich die Einstürzenden Neubauten in ein ganz phantastisches RAMPENlicht rücken. Ganz ohne Lametta, ohne ausufernde Lichtshow, ohne Tamtam. Die Neubauten pusten dem norddeutschen Nieselregen ein leichtes Lächeln ins Gesicht und verabschieden sich – wie sollte es in Kurt Schwitters ’ Hannover anders sein – mit etwas Dada.
Setlist – Einstürzende Neubauten in Hannover 2024
- Pestalozzi
- Ist ist
- Wedding
- Grazer Damm
- Isso Isso
- Möbliertes Lied
- Sabrina
- Die Befindlichkeit des Landes
- Sonnenbarke
- Seven Screws
- Trilobiten
- Gesundbrunnen
- How Did I Die?
- Ten Grand Goldie
- Alles in Allem
- Besser isses
- Everything Will Be Fine
- Let’s Do It a Dada