Reeperbahn Festival 2017: Ein Ausnahmestadtteil im Ausnahmezustand


Vom 20. bis 23. September fand in Hamburg das größte Club Festival Europas statt: das Reeperbahn Festival 2017. 

Auf der Reeperbahn ist eh immer die Hölle los. Hunderte Clubs und Bars, Musik und Exzess 24/7. Wer denkt, dass man das nicht steigern kann, kennt die Reeperbahn nicht. Hier tobte vier Tage lang das größte Club Festival Europas: das Reeperbahn Festival 2017, das parallel in unzähligen Clubs, Bars, Theatern und Galerien stattfand. Über 70 Bühnen schrien danach, mit einem Wegbier in der Hand von Location zu Location zu schlendern. Bei 500 Konzerten musste man sich zwar etwas beeilen. Dafür war die Chance hoch, ein paar interessante neue Künstler zu entdecken. Everything Everything, Beth Ditto, Maxïmo Park? Kennt man. Aber wer von euch hat schon von The Harpoonist & The Axe Murderer gehört?


Mittwoch

Der erste Tag begann für Fotograf Axel und mich im Festival Village, das nach eigenen Angaben „zum Entspannen einlädt“. Entspannung? Von wegen. Direkt am Eingang kamen wir an einem US-Schulbus vorbei, in dem die Ska-Band BAZZOOKAS spielte. Und wie sie spielte! Der Bus war voll mit feiernden Fans, die das tonnenschwere Fahrzeug zum Hüpfen brachten.

Emily Roberts

Kennen viele, ohne es zu wissen: Emily singt den Song des Lidl-Weihnachtsspots „Santa Clara“, ist aber nicht im Spot zu sehen. Mit ihrer Stimme hat sie dafür gesorgt, dass das kühle Hamburger Wetter ein paar Grad wärmer wurde. Dabei war sie umgeben von Fotografien des „Container Love Art Projects“. Die Ausstellungsreihe spielt mit Geschlechter-Klischees, setzt sich für Vielfalt ein und kämpft mit Kreativität gegen Homophobie. Wer damit ein Problem hat, hat auf dem bunten Reeperbahn Festival nix zu suchen. Aber was uns das Foto vom Penis im Hot Dog-Brötchen sagen sollte? Ich weiß es doch auch nicht.

junk-E-cat

Als wir über den Spielbudenplatz schlenderten, sind wir an junk-E-cat vorbeigekommen. junk-E-what? Hört sich an wie Fast Food für Katzen, ist aber ein Musiker. Wie er wirklich heißt? Das weiß niemand, junk-E-cat will anonym bleiben. Aber interessanter als sein Name ist seine Musik: junk-E-cat hat Saxophon-Melodien live eingespielt, Samples geloopt und zu Elektrotracks aufgebaut. Und das hat sich viel besser angehört als der schräge Name vermuten lässt. Nur die Maske war seltsam. Mal ehrlich, Masken sind durch, oder? Bei Daft Punkt waren die noch cool. Aber nur bei denen.

Suff Daddy & The Lunch Birds

Als nächstes ging es in den Mojo Club. Um kurz nach 8 hatten sich Suff Daddy & The Lunch Birds angekündigt. Suff Daddy – bei dem Name denkt natürlich jeder an Puff Daddy, den Champagnerflaschen schwenkenden Hip-Hop Mogul aus den 90ern. Suff Daddy hat allerdings Beats gespielt, die eher an Camp Lo, Madlib oder J Dilla erinnern. Boom Bap Beats, kuschelige Jazz-Samples, Live-Instrumente, ein bisschen Synthie, so gefällt mir das.

Dispatch

Vom Mojo ging’s rüber ins Docks, dem größten Hamburger Musikclub. Dort hatten Dispatch ihren Auftritt. Es fällt mir schwer, die sympathische Indie-Band aus Boston einzuordnen. War das Rock? Folk? Funk? Wikipedia sagt: alles. Die Jungs haben live richtig Gas gegeben. Sänger und Gitarrist Chad Urmston hat dabei den Kopf hin und her bewegt wie ein Metronom und die Crowd auf Betriebstemperatur für den Rest des Abends gebracht.

Lotte

Nächste Station: Bahnhof Pauli, ein Kellerclub im Klubhaus St. Pauli. Lotte muss man gut finden. Sagt zumindest Apple Music, die ihr Konzert präsentierten. Bevor es losging, kam ein Repräsentant auf die Bühne, um uns Lotte nochmal ans Herz zu legen. Bei so was werde ich immer etwas skeptisch. Apropos Herz: Bei Lotte geht’s um Liebe, Geborgenheit und Freiheit, verpackt in Songtexte, die an seichte Poetry Slam Gedichte erinnern: „Diesmal ist es anders, du bist für mich besonders, und selbst wenn mich mein Fluchtreflex einholt, und auch dich verletzt, ich glaub‘ an uns.“ Das Publikum hatte Spaß damit – und Lotte auch. Sie hat den ganzen Auftritt über gelächelt, getanzt und mit ihren Fans gequatscht.

Faber

Nach Lotte ging’s nochmal zurück ins Docks. Dort stand der Singer-Songwriter Faber mit seiner Band auf der Bühne. Singer-Songwriter hört sich immer so zart und nett an, nach Barhocker und Gitarre. Faber spielte gegen dieses Klischee an: mit druckvoller Livemusik, viel Energie auf der Bühne und gesellschaftskritischen Texten. Sollte man unbedingt mal live gesehen haben.

Leoniden

Leoniden? Nie gehört. Leider. Die Jungs waren meine erste Entdeckung auf dem Reeperbahn Festival. Jakob Amr, Djamin Izadi, JP Neumann, Felix Eicke und sein Bruder Lennart spielen Indie-Rock mit viel Synthie. Live im Mojo waren sie ein echtes Erlebnis. Ich weiß nicht, wann ich das letzte Mal eine junge Band gesehen habe, die so viel Energie, überschäumende Begeisterung und gut gelaunten Wahnsinn auf die Bühne gebracht hat. Gitarrist Lennart ist zeitweise dermaßen durchgedreht, das ich kurz davor war, einen Exorzisten zu holen.

Donnerstag

Der zweite Tag startete wie der erste: grau. Was soll’s. Wer sich in Hamburg übers Wetter beschwert, soll nach München ziehen.

Maxïmo Park

Die britischen Indie-Rock-Band ist eigentlich große Bühnen gewohnt. Umso überraschender, dass Maxïmo Park ein kleines Konzert vorm Konzert gespielt hat: im N-Joy Reeperbus. Ein Promo-Bus des Radiosenders, der für jeden zugänglich war – auch ohne Ticket. Hier hat Maxïmo Park einen Vorgeschmack auf ihr richtiges Konzert gegeben, das später im Docks stattfinden sollte. Um es vorwegzunehmen: Wir haben’s verpasst. War bestimmt super. Hier noch ein Tipp für alle, die nicht nur Bier, sondern auch mal feste Nahrung zu sich nehmen wollen: die Hot Dogs vom Holy Dogs Foodtruck sind eine Offenbarung. Amen.

Welshly Arms

Weiter ging’s zu Welshly Arms im Docks. Die Band um Sänger und Gitarrist Sam Getz kommt aus Cleveland und spielt Blues-Rock. Ihr bekanntester Song ist „Legendary“. Habt ihr alle schon mal gehört. Wenn nicht im Radio, dann im Werbespot für Beck’s Bier. Oder im Film Power Rangers. Oder in der Serie Empire. Oder in Sense8. Oder oder oder. Der Song ist ganz gut rumgekommen. Im Docks wurde er natürlich auch gespielt und von den Fans gefeiert.

Dakota

Mojo, Docks, Mojo, Docks. Irgendwann ist uns aufgefallen, das wir ständig zwischen den großen Clubs hin- und her tingeln. Deshalb ging’s als nächstes zur kleinen Bühne von Olivias Kiez Oase. Hier trat um 22 Uhr die holländische Band Dakota auf. Die vier Mädels spielen eine eigenwillige Mischung aus Dream Pop, Indie und Garage Rock. Verträumte Musik, die einen richtig einlullen kann. Heißt aber nicht, dass ihr Auftritt einschläfernd war. Das Publikum war hellwach und hat die Songs mit viel Applaus belohnt.

WILDES

Danach ging’s ins Imperial Theater, in dem eigentlich Krimi-Theaterstücke aufgeführt werden. Früher war hier ein Pornokino drin, aber das nur am Rande. Am Donnerstag gab’s hier weder Krimis noch Pornos, sondern die Sängerin WILDES. Vor der ägyptischen Bühnendeko des Theaterstücks „Fluch des Pharao“, das hier ansonsten aufgeführt wird, spielte sie verträumten Indie-Pop, der an Daughter erinnert. Dabei war WILDES weniger wild als ihr Name vermuten lässt. Sie hat sich schüchtern für unsere Geduld bedankt, hat kaum Regungen gezeigt und ist nach wenigen Liedern verschwunden. Kein Wunder, sie hat bisher nur die Songs „Bare“, „Illuminate“ und „Ghost“ veröffentlicht. Aber die haben mir gefallen. Gerne mehr davon.

A fucking surprise

Auf dem Heimweg gab’s noch eine Überraschung. Eine Nachricht der Festival-App erschien auf meinem Display: Ein Überraschungsgast tritt Freitag im Docks auf. Kein Geringerer als Liam Gallagher. Yes, Liam fucking Gallagher. Einer der beiden Sänger der legendären Band Oasis, bekannt für „Wonderwall“, „Don’t Look Back In Anger“ und die Skandale der Brüder Noel und Liam. Letzterer hat sich kürzlich in einem Video mal wieder herrlich aufgeregt. Diesmal weil er seinen Tee selber kochen musste: „In the 90s I got someone else to fuckin’ do it.“ Tja, der Liam hat eine kurze Zündschnur. Mal sehen, ob er Freitagabend explodiert.

Freitag

Das Wochenende stand vor der Tür, deshalb waren natürlich mehr Menschen unterwegs. Viel mehr Menschen. Selig in der Chikago Bar? Schon voll. Client Liaison im Molotow? Auch schon voll. Erst mal zum Spielbudenplatz, ein Bier trinken und einen neuen Plan machen. Und der hieß:

The Harpoonist & The Axe Murderer

Wir wollten unbedingt wissen, wer sich hinter diesem grandiosen Bandnamen verbirgt. Deshalb sind wir spontan in den Bahnhof Pauli. The Harpoonist & The Axe Murderer sind Shawn Hall und Matthew Rogers, ein Indie-Duo aus Kanada. Sofort fiel mir auf, wie viele Instrumente die beiden spielen. Shawn singt nicht nur, sondern spielt auch Mundharmonika und mit dem Fuß die Snare Drum. Matthew spielte nicht nur Gitarre, sondern auch die Bass Drum und mit dem Gitarrenkopf die Becken. Hört sich nach einem großen Durcheinander an, war aber wunderbarer Blues.

KLAN

Eine Hip Hop Crew? Eine Metal Band? Die Straßengang, die mich letztens abgezogen hat? Alles falsch. KLAN sind die beiden sympathischen Brüder Stefan und Michael aus Berlin. Im Docks haben sie deutschen Pop gespielt. Es ging um Alltagsgeschichten, aber auch um tiefsinnige Themen wie Glauben und Aufrichtigkeit. Kein Wunder, dass mich Michael an einen Prediger erinnert hat, als er mit ausladender Handbewegung das Publikum beschwört hat. Kurz vor Schluss gab’s extra Sympathiepunkte, als der Synthie durchgedreht ist und plötzlich einen Technobeat gespielt hat. Die Brüder haben’s mit Humor genommen – und die Fans auch.

Liam Gallagher

Der unbestrittene Headliner des Abends: Liam Gallagher von der Über-Band Oasis. Der lange geheim gehaltene Gig hat zahlreiche Fans zum Docks gelockt, die in einer endlosen Schlange auf den Einlass warteten. Schon lange bevor es losging war der Club bis in den letzten Winkel gefüllt. Trotzdem ein vergleichsweise kleiner Auftritt, wenn man bedenkt, dass Oasis mal vor 125.000 Fans gespielt hat. Zweimal hintereinander. Als Liam zu lautem Jubel auf die Bühne kam, hab ich mir als erstes gedacht: auch nicht mehr der Jüngste. Aber immer noch der Alte: grimmiger Blick, leicht gebückte Haltung, das Mikro etwas zu hoch, die Arme hinterm Rücken. Dazu die unverwechselbare Stimme, die vielleicht nicht mehr so jugendlich klingt wie damals, aber nicht an Druck eingebüßt hat. Liam spielte Solo-Stücke seines neuen Albums „As You Were“, aber auch Oasis-Klassiker wie „Morning Glory“ und den Hit „Wonderwall“, den die Fans von der ersten bis zur letzten Zeile mitgesungen haben.

samstag

Der letzte Tag des Reeperbahn Festivals 2017. Mehr ging auch nicht. Mittlerweile hingen die Augenringe tief. Trotzdem wollten wir eine Band nicht verpassen, die uns von allen Seiten empfohlen wurde.

Portugal. The Man

Mal wieder im Docks. Diesmal warteten wir auf „Portugal. The Man“, eine Indie-Rock-Band, die nicht aus Portugal kommt, sondern ursprünglich aus Alaska. Plötzlich wurde es dunkel – doch niemand kam auf die Bühne. Stattdessen wurde die Schnulze „Oh My Love“ aus dem Film „Ghost – Nachricht von Sam“ gespielt. Warum? Keine Ahnung. Warum nicht? Kurz darauf kam dann Portugal. The Man auf die Bühne und hat nicht lange gefackelt, sondern direkt losgelegt. Auch den Rest des Konzerts gab’s kein Gelaber, keine Tanzeinlagen, einfach nur druckvollen Indie-Rock. Ein Song folgte ohne Unterbrechung auf den nächsten. Applaus? Keine Zeit, wir müssen rocken! Die psychedelischen Animationen auf der Bühne haben ihr Übriges getan, um die Fans kollektiv durchdrehen zu lassen. Gegen 1 Uhr nachts sind wir leicht verstört aber glücklich aus dem Docks gewankt. Was für ein Ritt. Was für ein Abschluss vom Reeperbahn Festival 2017.