Positivus 2017: Das beste unbekannteste Musikfestival der Welt


Jedem, dem ich letzte Woche gesagt habe, dass ich nach Lettland zum Positivus 2017 fahre, hat mich fragend angeschaut. Kenn‘ ich nicht. Noch nie gehört. Dabei ist das Positivus eines der größten Musikfestivals in Osteuropa. Es fand dieses Jahr vom 7. bis 9. Juli in Lettland an der Ostsee statt.

Das Line-up war abwechslungsreich, aber durchweg auf hohem Niveau. Weltbekannte Popstars wie Ellie Goulding teilten sich die Bühne mit Legenden wie den Pixies, super hippen Bands wie Alt-J und lettischen Musikern. Außerdem dabei: Maxïmo Park, Kamasi Washington, The Lumineers, Grandmaster Flash – und natürlich wir!

Als das Gelände am Freitag geöffnet wurde, trudelten die Fans erst nach und nach ein. Vielleicht weil viele noch bei der Arbeit oder in der Uni waren. Das Publikum ist jung und bunt gemischt: vom Hardcore-Techno-Fan mit Eishockey-Maske über den Teenie-Typ im Pikachu-Onepiece bis zum Hippiemädel in Hotpants ist alles dabei.

Generell fiel mir auf, dass Jungs und Mädels etwas andere Vorstellungen haben, wenn’s um das perfekte Festival-Outfit geht. Während die Mädels größtenteils sehr stilsicher waren, haben viele Jungs anscheinend das angezogen, was im Kleiderschrank oben lag. Ausgelatschte Crocs, Nylon-Jogginghose und Strickpulli – ist das ironisch gemeint oder sieht das einfach nur bekloppt aus?

Egal, Hauptsache alle waren gut drauf. Die Stimmung auf dem Positivus war – passend zum Festivalnamen – durchweg positiv und freundlich. Keine Krawallmacher, keine Pöbler, keine Leute, die Stress suchen. Selbst Kerle, die komplett besoffen waren, waren friedlich und gut gelaunt. Alle feierten und hatten Spaß. Selbst die Polizeistaffel: Während der Drogen-Spürhund ein paar Rucksäcke checkte, quatschen die Polizisten lachend mit den Besitzern. In Hamburg würden die längst im Polizeigriff auf dem Boden liegen.

Dass die Stimmung so entspannt war, lag auch an der Location: das Positivus findet mitten in einem malerischen Kiefernwald direkt an der Ostsee statt. Es gab zwei große Hauptbühnen, ein paar kleine Bühnen, tausend Bierstände und die obligatorische Fressmeile mit Pizza, Pommes, Döner, Asia Food, Burger. Das alles war bunt, kreativ und künstlerisch dekoriert. Überall hingen Lichterketten und Hängematten zwischen den Bäumen. Hier war alles ein bisschen bunter und entspannter. Weniger Schlamm, mehr Sonne. Weniger Randale, mehr Prost. Überall relaxten die Menschen in Hängematten unter Lichterketten. Sogar die Schlange, die sich zwischen den Leuten durchschlängelte, schockte hier niemanden. Und ich rede nicht von einer kleinen Blindschleiche, sondern von einer richtigen, verdammten Schlange. Hier in Lettland ist die Natur noch etwas wilder. Gut so.

Und das waren die Bands, die wir auf dem Positivus 2017 erlebt haben:

Nothing but Thieves
Bester Bandname ever. Die Alternative Rock Band um Sänger Conor Mason hat richtig Gas gegeben. Eine grandiose Stimme, dazu ein verzerrter, verstörter, verdammt druckvoller Sound. Von ein paar romantischen Balladen mal abgesehen, fand ich die Songs alle richtig gut. Sehr modern und absolut passend für ein Festival.

Maxïmo Park
Blauer Anzug, Leoparden-Shirt. Das kann nicht jeder tragen. Eigentlich keiner. Bis auf Paul Smith. Der Sänger von Maxïmo Park hat auf der Bühne richtig Gas gegeben. Er hat rumgezappelt, Faxen gemacht und natürlich auch gesungen. Der Sound ging richtig ab – die Fans auch.

Pixies
Was will dieser Sparkassen-Filialleiter auf der Bühne? Das haben sich sicherlich 90 % des Publikums gefragt, als Frank Black von den Pixies die Bühne betritt. Ein dicker Typ mit Glatze und Brille in dunkelgrauem Anzug und Hemd. Die meistens Fans waren eher im Teeniealter und sind wahrscheinlich nicht mit den Pixies aufgewachsen. Dementsprechend waren sie überrascht, als Frank Black ins Mikro brüllte und die Band direkt von 0 auf 100 Dezibel beschleunigt. Die Pixies gaben Vollgas und zerlegten die Bühne in Schutt und Asche. Eine grandiose, richtig harte Performance. Vor allem für ein Wir-haben-uns-alle-lieb-Festival wie dem Positivus.

Fun Fact, gefunden auf Wikipedia: Kurt Cobain verließ mal in London eines seiner eigenen Konzerte früher, um einen Auftritt der Pixies in der Nähe nicht zu verpassen. Wie cool ist das denn bitte?

Grandmaster Flash
Grandmaster Flash hat nicht weniger geleistet, als Hip-Hop zu erfinden. Und DJing. Wer so einflussreich ist, konnte es sich erlauben, selbst weit nach Mitternacht die Fans eine halbe Stunde warten zu lassen. Um 1:30 ging’s endlich los und Grandmaster Flash hat das gemacht, was DJs halt so machen: Musik auflegen.

Jeder, der schon mal Old School DJs live gesehen hat, weiß, dass das etwas anders abläuft als heute. Anstatt zwei Songs minutenlang ineinander übergehen zu lassen und hochkomplexe Scratches einzubauen, gehen Old School DJs etwas gröber zur Sache. Da wird gnadenlos der nächste Beat reingescratcht, der Bass lässt die Boxen auseinander fliegen, es wird ins Mikro gebrüllt und Stimmung gemacht.

Man kann sich schon vorstellen, wie Grandmaster Flash in den 70ern auf den legendären Blockpartys in der Bronx die Leute zum Durchdrehen gebracht hat. Auch auf dem Positivus gab er Vollgas und sorgte dafür, dass die Crowd auch zu später Stunden noch richtig anging. Er spielte Hip Hop, Funk, Soul, aber auch Disco und Pop – und schaffte es irgendwie, all das partytauglich zusammen zu mixen und mit ein paar wuchtigen Scratches den Fans ins Gesicht zu schleudern. Ich glaube, er hätte die Kelly Family auflegen können und die Leute wären gehüpft.

L.A. Salami
Kann man als Vegetarier einen Künstler gut finden, der L.A. Salami heißt? Na klar! L.A. Salami ist ein junger Musiker, der mich schwer an Jean-Michel Basquiat erinnert. Er spielt 70s Folk-Rock und Postmodern Blues. Sehr lässig. Mindestens genauso lässig war auch sein Klamottenstil. Lustig, dass der Künstler mit dem seltsamsten Namen der wohl am coolsten angezogenen Mensch des Festivals war. Was wohl in dem Notizbuch steht, das aus Hosentasche schaute? Die neusten Songtexte? Oder doch nur die Einkaufsliste für den Supermarkt? Das müsst ihr ihn selber fragen.

Kamasi Washington
„Jazzmusiker verprügelt Techniker vor tausenden Fans.“ Kurz hab ich befürchtet, dass das die Aufmacher-Headline für meinen Text über Jazzmusiker Kamasi Washington wird. Denn zu Beginn des Auftritts hat erst ein Mikro gestreikt, dann hat irgendwo irgendwas geknistert, dann war das Mikro wieder an, wieder aus, wieder an, wieder aus. Mitten im Lied wuselten Techniker zwischen den Musikern rum, um alles zum Laufen zu bringen. Und Kamasis Blick wurde immer grimmiger und grimmiger.

Irgendwann lief dann alles und der Auftritt entwickelte sich zu einem echten Festival- Highlight. Die Highlights dieses Highlights: Einer der beiden Drummer verlor mitten im Solo einen Stick und spielte einfach einhändig weiter. Kamasis Vater Rickey Washington kam auf die Bühne und spielte mit. Der Jazzstandard „Cherokee“. Und zum Abschluss der epische Song „The Rhythm Changes“, bei dem die wunderbare Sängerin nochmal dafür sorgte, dass die Fans im Publikum feuchte Augen bekamen. Ich übrigens auch.

Das alles fand bei einem surreal langsamen Sonnenuntergang statt, bei dem
anscheinend die Zeit stehen geblieben ist: Als die Sonne auf perfekter Höhe war, um vom Meer aus durch die Bäume auf die Bühne zu scheinen, ist sie für eine Stunde auf gleicher Höher stehen geblieben und hat den gesamten Auftritt in goldenes Licht getaucht. Echt wahr!

Rae Sremmurd
Rae Sremmurd – was ist das für ein Name? Warum ziehen die sich aus? Und warum
stehen da Ananas neben dem DJ-Pult? Rae Sremmurd ist bisher komplett an mir
vorbeigegangen. Aber anscheinend nicht am Rest des Publikums: tausende Fans waren erstaunlich textsicher und konnten jede Zeile mitrappen. Die beiden Rapper aus Atlanta und ihr DJ haben eine der energiegeladensten Shows des Festivals abgezogen. Der Trap-Sound ist nicht so meins, aber die Jungs haben richtig Gas gegeben und dafür gesorgt, dass das Publikum komplett eskaliert. Sie haben Champagner flaschenweise in die vorderen Reihen gespritzt, Ananas auf der Bühne zerquetscht und ins Publikum gefeuert – und ihre Shirts und Jacken direkt hinterhergeworfen. Als sie die Fans aufgefordert haben, sich auch auszuziehen, flogen dann unzählige Klamotten gleichzeitig in die Luft. Irgendwann durften dann auch noch ein paar Kids auf die Bühne, um mehrere Songs mitzurappen und Selfies mit den Rappern und tausenden Fans zu machen. Damit dürften sie ab jetzt die coolsten Kids der Schule sein.

Ellie Goulding
Eine halbe Stunde vor Mitternacht war dann Zeit für den Headliner des zweiten Abends: Ellie Goulding. Die britische Singer-Songwriterin erinnert ein bisschen an Helene Fischer, ist aber weitaus cooler. Ihre Musik ist Pop, Folk mit leichtem, ganz leichtem Elektro-Einschlag. Ihre Stimme hat etwas sehr besonderes, dass sich nur schwer beschreiben lässt. Jede blonde Strähne sitzt perfekt und die Klamotten sind so dermaßen locker und ungezwungen, dass es schon etwas erzwungen wirkt. Auf ihrem T-Shirt steht „High as your expectations“. Ob sie unsere Erwartungen erfüllt hat? Was erwartet man eigentlich von einem Popstar? Eine perfekte Show natürlich. Und die lieferte sie uns Samstagabend. Sie spielte mit Energie durch all ihre Hits. Nur ein Lied habe ich vermisst: ihren ersten Hit „Starry Eyed“.

José Gonzáles
Erster interessanter Act des dritten Tages: José Gonzáles. Er kommt, wie schon sein Name vermuten lässt, aus Göteborg in Schweden. Es war noch früh am Abend und die Fans waren noch etwas träge, aber das war nicht schlimm. José bewegte sich ja auch nicht viel. Er saß entspannt auf einem Hocker und spielte Gitarre. Aber eine wilde Show hätte zu den entspannten Indie-Folk-Songs auch gar nicht gepasst. So ging der dritte Tag des Positivus Festivals gut los.

The Lumineers
Der erste Headliner des letzten Tages: The Lumineers. Die Folk-Rock-Band aus den USA hatte ihren Durchbruch mit dem Hit „Ho Hey“ – kennt ihr alle, könnt ihr alle mitsingen. Leadsänger Wesley Schulz, mittlerweile mit beeindruckender Mähne, startete das Konzert am Klavier. Mitgebracht hat er seine Bandkollegen Jeremiah Fraites (Drums) und Neyla Pekarek (Cello), dazu noch einen Bassist und einen Akkordeonspieler. Die Fans begrüßten sie mit tosendem Applaus und konnten jeden Song mitsingen: von „Ho Hey“ über „Cleopatra“ bis „Stubborn Love“. Teilweise hat die Crowd auch mal eine halbe Strophe alleine gesungen, als Wesley um etwas Unterstützung gebeten hat. Highlight des Auftritts: Wesley Schulz kletterte über die Absperrung zum Publikum. Er ging weit in die Menge hinein, sang seinen Song, verteilte viele High-Fives und bekam noch mehr Schulterklopfer zurück. Nach einer Zugabe (oder waren es zwei?) verließen die Lumineers die Bühne und ließen die Fans mit einem glücklichen Grinsen zurück.

alt-J
Dann war es so weit: alt-J. Es war Sonntagabend und das letzte Konzert des Positivus 2017 stand an. Schon bevor es losging, fiel die interessante Lichttechnik auf: dutzende dunkle Stäbe, die wie Gitter mehrerer Gefängniszellen die einzelnen Musiker voneinander trennen. Weil es Ärger zwischen den Bandmitgliedern geben könnte? Hoffentlich nicht!

Kurz nach 22:30 betraten alt-J die Bühne: Joe Newman (Gesang und Gitarre), Gus Unger-Hamilton (Keyboard) und Thom Sonny Green (Drums). Und mit dem ersten Ton leuchteten die schwarzen Gitterstäbe grellweiß auf. Im Takt der Musik leuchteten mal mehr, mal weniger LEDs, was eine spektakuläre Lightshow ergab, die flackerndes Licht auf die Fans vor der Hauptbühne des Positivus-Festivals warf. Alt-J spielte druckvollen Alternative Rock/Indie Rock, bewegte sich dabei aber nicht viel. War aber auch nicht schlimm, weil die Lightshow schon wild genug war. alt-J spielten „In Cold Blood“, „Fitzpleasure“ und viele andere Songs.

Tausende Fans, die drei Tage durchgefeiert, durchgetanzt und durch(einander)getrunken hatten, riefen nochmal ihre letzten Energiereserven ab und gaben alles. Ein spektakulärer Abschluss eines spektakulären Festivals: Positivus 2017. Ich weiß jetzt schon, wo ich nächstes Jahr um diese Zeit bin.