Grau vs. bunt: Das MS Dockville 2017 in Hamburg


Letztes Wochenende fand ein episches Battle statt: das graue Hamburger Wetter gegen das wohl bunteste Musikfestival des Nordens – das MS Dockville 2017, das vom 18. bis zum 20. August in Hamburg stattfand.

Das MS Dockville, wer kennt es nicht. Zumindest hier in Hamburg. Auch wenn man gar nicht hin will, kommt man ums Dockville nicht drum herum. Schon viele Wochen vorher begegnet es einem auf Facebook und Instagram, auf weit ausgeschnittenen T-Shirts und Jutebeuteln, auf Postern, Plakaten und Flyern im Schanzenviertel. Dockville hier, Dockville da. Jeder Hipster zwischen 14 und 34 redet, schreibt und postet in den sozialen Netzwerken darüber.

MS Dockville 2018 Tickets + Infos:

Kein Wunder, das Dockville 2017 ist äußerst instagramable: es ist bunt, lebensfroh, kreativ und sehr fotogen. Nicht ohne Grund nennt es sich „Festival für Musik und Kunst“. Das Gelände in Hamburgs wildem Süden ist vollgestopft mit Kreativität und sympathischem Wahnsinn. Bei meinem Rundgang hab ich einen riesigen Mader aus Schrott entdeckt, einen regenbogenfarbenen Tunnel, einen Wal, der aus dem Boden auftaucht, ein Holzkopf, aus dem ein Baum sprießt, eine riesige, knallbunte Lokomotive, die aussieht als wäre sie direkt aus einem LSD-Rausch hier hergefahren, außerdem zahllose Kunstinstallationen aus Fäden, Spiegeln, Gittern und Containern. Hier ist wirklich nichts normal. Gut so.


Bunt. Bunter. Dockville.

Neben den drei große Bühnen „Großschott“, „Vorschott“ und „Maschinenraum“ gibt es viele kleine Bühnen, die liebevoll dekoriert sind: im „Nest“, das sich in Bäume und Büsche eingenistet hat, legen DJs vor den Pfeifen einer Kirchenorgel auf. Zu einer anderen Bühne kommt man nur, wenn man einen verschlungenen Pfad durch die Büsche geht. Eine Cocktailbar ist in einer kleinen Burg aus Holz. Irgendwo hinterm Foodcourt legt ein DJ in Wohnwagen auf. Dazu kommen noch viele weitere Bühnen, Bars, Clubs und Shops.

Das Dockville ist eine bunte Insel, umgeben von spektakulären Industrieanlagen. Zum Beispiel das Getreide Terminal, das in seiner gigantischen Klotzigkeit abschreckend und beeindruckend zugleich ist. Außerdem bietet es die wohl größte Leinwand der Welt: Nachts strahlt ein Beamer vom Festivalgelände aus bunte Illustrationen auf die Wand des riesigen Getreidelagers.

Freitag: knietief im Matsch.

Als ich Freitagnachmittag auf dem MS Dockville Festival ankam, sah der Himmel schon bedrohlich dunkeldunkelgrau aus. Und dann öffneten sich die Schleusen: es regnete und regnete und regnete. Ich glaube, zwischen 22:34 und 22:36 Uhr war’s mal kurz trocken, ansonsten hat’s durchgeschüttet. Das hat natürlich dazu geführt, dass sich ein Großteil des Geländes in ein riesiges Schlammbad verwandelt hat. Wer jetzt romantische Woodstock-Szenen erwartet hat, in denen nackte Menschen sich die Klamotten vom Leib reißen und ausgelassen im Matsch tanzen, wurde enttäuscht. Irgendwann kroch jedem die Kälte und  Feuchtigkeit in den Nacken und man sehnte sich nach dem warmen, sonnigen Dockville 2016 zurück. Hach.

Trotzdem war die Stimmung ausgelassen. Nicht vergessen, wir sind in Hamburg. Wer sich hier wegen Regen beschwert, soll nach München ziehen. Die meisten der 20.000 Festivalbesucher haben einfach Gummistiefel angezogen und im Regen gefeiert.

SSIO

Die ersten Acts hatten schon am frühen Nachmittag ihren Auftritt. Für mich ging’s erst gegen 20:30 richtig los, als SSIO auf die Hauptbühne trat. Wer wissen will, was ich von deutschem Gangsterrap halte, soll sich meinen Stagr-Bericht vom Kollegah-Konzert durchlesen. Aber SSIO ist kein normaler deutscher Gangsterrapper. Er schafft es, gleichzeitig witzig und authentisch zu sein. Funky Straßenrap, der sich einen dicken Pelzmantel Ironie angezogen hat. Man erinnere sich an das Video von „Nullkommaneun“, in dem SSIO mit einem Schaf an der Leine posiert hat – und nicht mit einem Pitbull wie seine Kollegen. Mit „Nullkommaneun“ ging’s dann auch druckvoll los. Tausende Fans haben gegen den Dauerregen angefeiert und auf SSIOs Kommando die Arme hin und her bewegt: „Alle Arme in die Luft! Zeigt eure Achselhaare!“ Spätestens bei Zeilen wie „Halb Mensch, halb Nase, Entchen vom Dreier mit Sandalen“ musste jeder der tausenden Fans breit grinsen und mitfeiern.

Tash Sultana

Weiter ging’s mit Tash Sultana. Von ihr hab ich leider nur ein, zwei Lieder mitbekommen. Die Auftritte beim Dockville sind sehr eng getaktet – es ist kaum möglich, alle Musiker zu sehen, die man sehen will. Man rennt von Bühne zu Bühne und verpasst trotzdem immer die Hälfte. Aber das, was ich von Tash Sultana sehen und hören durfte, war richtig gut. Die Singer-Songwriterin aus Australien spielt nach eigenen Angaben über 10 Instrumente und hat auch auf dem Dockville gezeigt, was sie an der Gitarre, am Mikro und an anderen Instrumenten drauf hat. Bei all dem hat sie gegrinst, Grimassen gezogen und ihre eigene Musik genossen wie die Fans vor der Bühne. Ein toller Auftritt, von dem ich gerne mehr mitbekommen hätte.

Yung Hurn

Von wem ich Gottseidank auch nicht viel mitbekommen habe, ist Yung Hurn. Als jemand, der mit den Boom Bap Beats der Golden Era des Hip Hops aufgewachsen ist, kann ich mit Yung Hurn überhaupt nix anfangen. Ist jetzt ernst gemeint oder ironisch? Ist das Kunst oder kann das weg? Klar, das ist ironisch. Von mir aus kann’s trotzdem weg. Die Beats sind einschläfernd und die Raps sind keine Raps, sondern nur monotones, bekifftes Gelaber: „Pretty Baby, ich sag pretty Baby ich sag pretty pretty pretty Baby.“ Flow, Storytelling und schlaue Reime sucht man bei Yung Hurn vergebens. Schnell weiter zur nächsten Bühne.

Flume

Um 22:15 dann der Main Act auf der Hauptbühne: Flume. Der Electro-DJ aus Australien hat mit 13 Jahren seine ersten Beats gemacht, als er ein Musikprogramm als Beilage einer Cornflakes Packung entdeckt hat. So so. Auf dem Dockville spielt er seine avantgardistischen Electro-Songs, bei denen abgehackte Samples und flächige Sounds auf tiefe Bässe treffen. Ab und zu war auch mal die Stimme einer Sängerin und eines Rappers zu hören. Aber keiner von denen war auf der Bühne. Kann aber auch sein, dass ich die wegen der imposanten Lightshow nicht gesehen habe. Bunte Lichter, Neonröhren, Rauch, Konfetti, volles Programm. Die riesige Crowd vor der Bühne hat ihn dafür abgefeiert. Ich kann mich auf Festivals eher für Bands begeistern, die mehr machen, als hinterm DJ-Pult zu stehen.

Von Wegen Lisbeth

Zu guter Letzt dann Von Wegen Lisbeth. Die Berliner Band um Sänger und Gitarrist Matthias Rohde stand um 22:40 auf der zweitgrößten Bühne, dem „Vorschott“. Hinter den Musikern war eine Schmetterlingstapete mit riesigen, von Blättern umrankten Leuchtbuchstaben: VWL. Vor der Bühne war’s brechend voll, deswegen konnte ich den Auftritt nur aus der Ferne beobachten: Indie-Pop, der teilweise auch mal mit ungewöhnliche Instrumente gespielt wurde, zum Beispiel ein Kinderglockenspiel. Nach Flume tat es ganz gut, ein paar Live-Instrumente zu hören.

Samstag: Schlammtag.

Der Samstag fing wie Freitag an: nass. Der Regen hat uns an der denkbar ungünstigsten Stelle überrascht. Wenn man zum Gelände will, muss man noch ein gutes Stück zu Fuß gehen. Und zwar über einen langen Weg ohne Unterstell-Möglichkeiten. Keine Hauseingänge, keine Bäume, nix. Als wir gegen 17:00 Uhr genau über diesen Weg zum Festival gingen, wurden wir von einem Wolkenbruch begrüßt, der sich gewaschen hat. Besser gesagt: der uns gewaschen hat. Regen stürzte sintflutartig vom Himmel herab und hat uns in Sekunden komplett durchnässt. Ein paar Festivalbesucher haben versucht, sich in (!) einem Busch in Sicherheit zu  bringen. Hat nicht viel gebracht, sah aber lustig aus: die bunt gekleideten Jungs und Mädels sahen aus wie exotische Vögel, die sich zwischen den Blättern verstecken.

Crack Ignaz

Als wir an der Vorschott-Bühne vorbeikamen, haben wir noch ein paar Reime von Crack Ignaz mitbekommen. Noch so ein deutschsprachiger Rapper, der lieber den schwer angesagten und leicht verstrahlten Cloud-Rap-Style aus Amerika nachmacht, anstatt sich was eigenes auszudenken. Er rappte mit Salzburger Dialekt Zeilen wie „Swah, Swah, Swah, Swah, Swah in dei Gsicht bis es bricht.“ Swah, Swah, Swah? Bla Bla Bla.

Audio88 & Yassin

Crack Ignaz wurde auf der Vorschott-Bühne gottseidank von zwei Rappern abgelöst, die ihr Handwerk besser verstehen: Audio88 & Yassin. Wer das Video ihres Songs „Halleluja“ kennt, hat sich nicht über die seltsamen Aufbauten auf der Bühne gewundert: Kirchenfenster, ein Altar, zwei Kanzeln. Passend dazu stürmten die beiden Berliner Rapper und ihr DJ in Priestergewändern auf die Bühne, um „Halleluja“ zu performen. Die Crowd ist sofort mitgegangen und hat laut „Amen … Amen … Amen …“ mitgesungen. Amen? Hört man auf Musikfestivals eher selten. Ist natürlich ironisch gemeint. Die Texte von Audio88 & Yassin sind oft zynisch und sarkastisch. Kann helfen, wenn man mit erhobenem Zeigefinger rappt. Audio88 & Yassin kritisieren gerne die Politik, die Gesellschaft und natürlich die anderen Rapper. Wer kein Hip-Hop-Fan ist, fremdelt ja oft mit Battlerap. Aber der gehört dazu, auch bei schlauen Rappern. Der Sound erinnert an die guten alten Zeiten des Hip Hops: düstere, dicke Beats, die das Wasser in den Matschpfützen vor der Bühne vibrieren lassen.

Oh Wonder

Für uns ging’s weiter mit Oh Wonder. Sollte es zumindest. Denn eine armageddonesque Gewitterfront zog auf, die so bedrohlich aussah, dass die Dockville-Veranstalter eine Unwetterwarnung ausgegeben haben. Am besten nicht unter Bäumen stehen! Okay, dann halt unterm Bierstand. Wie zuvor war der Wolkenbruch nach wenigen Minuten überstanden – und diesmal kam die Sonne raus. Zu einem kitschigen Sonnenuntergang konnten wir die letzten Lieder von „Oh Wonder“ genießen. Das gehypte Indie-Pop Duo aus London spielt elektronische Balladen, die an The xx erinnern, nur mit etwas Puderzucker oben drauf. Vor den riesigen, pinken Buchstaben „OW“ spielten Josephine Vander Gucht und Anthony West „Without you“ und viele andere Songs. Singen tun übrigens beide, und das immer gemeinsam. Tausende Fans vor der Bühne dankten es ihnen mit lautem Applaus.

Denzel Curry

Ich kam gerade mit einem verträumten Grinsen von Oh Wonder zurück – und plötzlich wurde ich von Denzel Curry verprügelt. Jeder Beat war ein Schlag in die Magengrube. Der Rapper aus Florida ist bekannt für seinen rohen Songs und Texte. Dementsprechend aggressiv war auch seine Show: Er rannte längs und quer über die Bühne und rappte mit soviel Wut und Druck ins Mikro, dass ich den Kopf eingezogen habe. Die Fans drehten durch, sprangen und sangen zum Song „ULT“ lauthals mit: „ULT! ULT!“ Jetzt bin ich wach.

Moderat

Die Headliner des Samstags hatten ihren Auftritt auf der Hauptbühne. Das Feld davor war bis weit nach hinten mit Menschen gefüllt, die sich voller Erwartung auf das Berliner Elektro-Trio freute. Um 22:30 war es dann soweit: Moderat kamen auf die Bühne und spielten ihre wobbelnden Elektrobeats. Ein Extralob gibt’s von mir für die sensationelle Lightshow, die fast komplett schwarz-weiß war. Auf der Leinwand erschienen riesigen Hände, die sich langsam bewegen, dazu grelle weiße Lichter, die in den Nachthimmel stachen. Was für ein Auftritt.

Sonntag: man kennt sich.

Ob in der S-Bahn, im Edeka oder vor der eigenen Haustür: andere Festivalbesucher erkannte man mittlerweile schon von weitem. Gummistiefel, von denen der verkrustete Schlamm abbröckelt? Den Bierbecher von gestern in der Jackentasche? Ein selbstgebasteltes Plastikeinhorn dabei, das auf einem mit bunten LEDs verzierten Regenschirm steht? Alles klar, Dockville. Man kennt sich.

Eine bunte Tüte.

Zu Beginn des letzten Festivaltages gab’s eine bunte Tüte Gemischtes ohne Lakritz: Die Höchste Eisenbahn, Beach Fossil, Palace, Mighty Oaks und Roosevelt. Die fünf Bands waren dermaßen schnell hintereinander getaktet, dass sie mir leider nur noch als ein großes, buntes Konzert-Durcheinander in Erinnerung geblieben sind. Waren bestimmt alle prima.

AnnenMayKantereit

Um 20:30 wurde es dann nochmal spannend: AnnenMayKantereit waren auf der Hauptbühne. Die vier Kölner Christopher Annen, Henning May und Severin Kantereit, Malte Huck vergisst man eigentlich nicht, wenn man sie einmal gehört hat. Das liegt zum einen an der rauen Stimme von Sänger Henning May, der sich anhört, als wäre er 10 Jahre älter und würde jeden Morgen eine Schachtel Kippen und eine Flasche Jack Daniels frühstücken. Zum anderen an den eingängigen Texten, die hin- und hergerissen sind zwischen Wut und Freude, Liebe und Verlustängsten, gehst du jetzt oder bleibst du noch. Manchmal geht’s tiefsinnig zu wie in „Oft gefragt“, manchmal geht’s nur um banale Alltagserlebnisse, die für einen Moment tiefsinnig erscheinen, wie eine gemeinsame Flasche Billigwein vom Kiosk in „Länger bleiben“. Am Sonntagabend trafen sie mit den Dockville-Besuchern auf ein dankbares Publikum, das Henning jedes Wort von den Lippen abgelesen hat. Tausende Fans feierten, jubelten und schmachteten bis zum Schluss tapfer mit.

Grau 0 : Bunt 1

So weit, so bunt. Das war das MS Dockville Festivals 2017. Den Battle zwischen dem grauen Hamburger Wetter und dem bunten Festival hat auf jeden Fall das Dockville für sich entschieden. Bis nächstes Jahr!