Der halbnackte Wahnsinn: Sziget Festival 2018 – Teil 2


Vom 08. bis 15. August findet auf einer kleinen Insel im Herzen Budapests eines der größten Musikfestivals Europas statt: Sziget 2018. Vor kurzem haben wir auf Stagr von den ersten beiden Tagen des Festivals berichtet. Heute folgt Tag 3: Freitag.

Die meisten Festivals dauern drei Tage. Passt ja auch gut: Am ersten Tag feiert man vor lauter Vorfreude etwas zu doll, am zweiten Tag schaltet man einen Gang (zum Bierstand) zurück, am dritten Tag gibt man noch mal Gas und feiert sich die letzten Kraftreserven aus den Gliedern. Das Sziget Festival dauert allerdings ganze 7 Tage. Eine Woche Livemusik, Spaß und Party. Aber auch eine Woche Staub, Lärm, Fastfood, Campingzelt, Dixiklo, Festivalduschen. Danach wäre ich wahrscheinlich auf dem geistigen, körperlichen und olfaktorischen Niveau eines verwahrlosten Neandertalers. Und auch bei manch anderem Festivalbesucher frage ich mich, ob er bis zum Ende durchhält: einer hat eine blutige Schramme am Bein, ein anderer einen verbundenen Arm oder einen Cut überm Auge. Aber keine Angst: Der Cut stammt sicherlich nicht aus einer Schlägerei, sondern aus dem Moshpit. Denn die Stimmung auf dem Sziget ist durchweg positiv, friedlich, fröhlich und offen. Feiern und feiern lassen.

Island of Freedom and Dosenbier

Auf dem Sziget-Logo heißt es: Love, Revolution, Island of Freedom. Und überall auf dem Gelände begegnen einem Fahnen und Plakate mit Sprüchen wie „Green Planet“, „Human Rights“ oder „No Racism“. Gerade in einem Land wie Ungarn, das von einem rechtspopulistischen Ministerpräsident regiert wird, tut es gut, dass sich das Sziget so bunt und weltoffen positioniert. Nur beim Thema Umweltschutz musste ich ab und zu den Kopf schütteln. Zum Beispiel als mit einem lauten „Save the Environment!“ 10.000 aufblasbare Plastik-Erdkugeln ins Publikum geworfen wurden. Umweltschutz und 10.000 Plastikbälle? Das muss mir jemand erklären. Außerdem werden massenweise Bierdosen und Plastikflaschen verkauft, die erst auf dem Boden und dann im Müll landen. Das Mehrwegbecher-System auf dem Sziget funktioniert doch prima – wer braucht da Dosenbier?

Heiß, heißer, Freitag.

Apropos Bier. Auch am Freitag war die Hitze wieder unerträglich. Von jedem Bier, das ich getrunken habe, ist die Hälfte wahrscheinlich schon im Becher verdunstet. Aber bei solchen Temperaturen sollte man natürlich nicht nur Bier trinken, sondern auch Wasser. Wer wollte, konnte es direkt aus dem Feuerwehrschlauch genießen: zwei alte Feuerwehrwagen sind auf dem Gelände rumgefahren und haben die Fans nassgespritzt. Super, noch einen Grund mehr, sich auszuziehen! Am Mittwoch und Donnerstag waren schon auffällig viele Fans halbnackt unterwegs. Aber heute gehörte ich mit meinem T-Shirt schon fast zur prüden Minderheit.

Shame

Ganz und gar nicht prüde: Shame aus Süd-London. Für Fotograf Axel und mich die erste Band des Tages. Und was für eine. Als die 5-köpfige Punk-Combo zum legendären Dü-Düüü-Dü-Düüü-Dü-Düüüüüüü-Intro von den „X Files“ auf die Bühne kommt, hätte man sie auf den ersten Blick für eine harmlose Schülerband halten können. Das Alter kommt hin. Aber davon darf man sich nicht täuschen lassen. Die Jungs ließen nichts anbrennen und fackelten vom ersten Takt an die Bühne ab. Sänger Charlie Steen hat wild gesungen, noch wilder getanzt und die komplette Bühne in Anspruch genommen. Aber auch die war schnell zu klein: Schon beim ersten Song ist er vom Bühnenrand geklettert und in die Menge gesprungen. Bei Shame konnte man in jedem Song die ungezügelte Freude an der Musik spüren. Die Jungs haben richtig Bock auf das, was sie da machen. So kann’s heute weiter gehen.

The Kooks

Ging es aber nicht. Als nächstes standen The Kooks auf der Hauptbühne. Aber wenn man gerade nassgeschwitzt, mit 180 Puls und einem irren Grinsen vom Shame-Auftritt kommt, sind The Kooks einfach etwas zu nett. Aber das war nur mein persönlicher Eindruck. Tausende Kooks-Fans waren anderer Meinung und haben die vier Indie-Rocker aus Brighton zu Recht abgefeiert. Die Jungs haben eine saubere Performance abgeliefert. Aber uns war gerade eher nach Geschrei als nach Gesang. Deshalb ging’s weiter zu:

Scarlxrd

Für Scarlxrd (ausgesprochen „Scarlord“) mussten wir die Hauptbühne verlassen und zum riesigen Zirkuszelt gehen. Doch bevor der Rapper aus UK auf die Bühne kam, mussten wir uns mit seinem DJ zufrieden geben, der die Crowd mit harten Trap-Beats angeheizt hat. Mich hat’s nicht so richtig mitgerissen. Das kann aber auch an der dichten Graswolke gelegen haben, in die mich die Jungs nebenan gehüllt haben. Wenige Tracks später kam dann Scarlxrd auf die Bühne. Sein Markenzeichen, die Chirurgenmaske, hat er schnell abgenommen – wahrscheinlich, um die Fans besser anschreien zu können. Scarlxrd rappt zwar, seine Musik hat aber mit klassischem Hip-Hop nicht viel zu tun. Die energiegeladene Performance war eine Mischung aus lautem Geschrei und brutalen Raps, aus Trap und Metal, aus Licht und Schatten. Kein Wunder, dass er nach Dungeness gezogen ist, ein abgelegenes Stranddorf im Südosten Englands. Seine vorherigen Nachbarn „were pissed off“. Hier hat er seine Ruhe und kann schreien, eskalieren und verrückt sein, wann immer er möchte. Wie das aussehen kann, durften wir heute auf den Sziget Festival erleben.

Parov Stelar

Puh. Nach dem Scarlxrd-Wahnsinn brauchten wir dringend ein bisschen heile Welt. Deshalb sind Fotograf Axel und ich zurück zur Mainstage geschlendert: hier stand Parov Stelar auf der Bühne. Der österreichische DJ hat Electroswing gespielt und sich dafür die Unterstützung von zahlreichen Musikern und der Sängerin Cleo Panther geholt. Ich glaube, dass es am Anfang ein paar Soundprobleme mit ihrem Mic gab, aber das Cleo nicht aus der Ruhe gebracht. Sie hat mit viel Routine und noch mehr Charme gesungen, während Parov Stelar die Beats geliefert und mit seinen Musikern zu sehr tanzbarem Electroswing verwandelt hat.

Are you selling drugs?

Kurzer Abstecher zum Telekom Colosseum: eine riesige Installation aus Europaletten, die wohl an das Kolosseum erinnern soll. Doch statt Brot und Spiele gab’s Drinks und Techno. Hier wurden alle glücklich, die einfach nur abtanzen wollen. Doch kaum hatte ich das Colosseum betreten, wurde ich von einem Mädchen gefragt: „Are you selling drugs?“ Äh … what? No! Und du solltest am besten keine nehmen! Schon gar nicht von irgendeinem Fremden, den du auf einer Tanzfläche in Ungarn anquatschst.

JP Cooper

JP Cooper stand um 20:15 auf der Bühne im Zirkuszelt. Der Singer-Songwriter mit den dicken Dreadlocks ist die wohl coolste Socke unter den Schmusesängern. Das fängt schon damit an, dass er auf spektakuläre Effekte verzichtet hat, als er die Bühne betrat. Er war nämlich schon längst da: Er hat den Soundcheck selber gemacht und sich entspannt an der Gitarre warmgespielt. Bereit, wenn ihr es seid! JP Cooper kommt aus Manchester und hat eine soulige, coole Stimme, die ich mir immer wieder gerne live anhöre. Und ich war nicht der einzige: vor der Bühne herrschte dichtes Gedränge. Die Fans standen Schulter an Schulter, um JPs Songs zu genießen. Spätestens beim all-time Ohrwurm „September Song“ hat dann wohl jeder Fan im Publikum mitgesungen.

Bilderbuch

Letzter Act des Abends: die Band Bilderbuch spielt auf der Bühne im Zirkuszelt. Es ist schwer die Musik der vier Österreicher zu beschreiben. Indie-Hip-Hop-Art-Disco-Pop-Electro mit ein paar Takten Dadaismus. Eine verschwitzte, eng miteinander verschlungene Mischung aus Falco, James Brown und Yung Hurn. Oder auch nicht. Oder doch? Und die Texte erst: „Komm vorbei in meinem Bungalow! By the rivers of cash flow. Wir trinken Schorle, trinken Soda. Komm vorbei mit deinem Skoda.“ Macht das Sinn? Ist das Quatsch? Ist das ironisch oder ernst? Ich weiß es doch auch nicht. Was ich weiß: Bilderbuch ist einzigartig. Am Freitag spielten sie hinter dicken Gitterstäben, die noch nicht wussten, dass sie später von Sänger Maurice Ernst mit frivolen Lapdance-Moves verwöhnt wurden. Doch vorher gab’s ein Johnny Cash Intro – dann ging’s los. Im Publikum wehten riesige Fahnen von Österreich und der Schweiz. Bilderbuch spielten all ihre irren Songs, zum Beispiel „Bungalow“, „Schick Schock“ oder „Sneakers4free“, bei dem Maurice die Fans aufgefordert hat, ihre Sneaker hochzuhalten – und sie taten es. Was für ein wunderbares Bild.

Drei von sieben Tage Wahnsinn

Unser dritter Tag war damit zu Ende. Auf den vielen Sziget-Bühnen wurde teilweise noch bis 6 Uhr morgens Musik gespielt. Aber auch wenn man um Mitternacht nach Hause geht, kann man hier mehr als genug erleben. Und das Festival ist noch lange nicht zu Ende: hier wird noch bis zum 15. August gefeiert. Soviel Festival passt natürlich nicht in einen Bericht wie diesen hier. Den Wahnsinn muss man selber zu erleben: auf dem Sziget 2019.

infos + tickets sziget festival 2019

sziget 2019 / sziget festival 2019