Chiemsee Summer 2017 – Vorzeitiger Abschied


Die ersten beiden Tage beim Chiemsee Summer 2017 liefen reibungslos ab. Nachmittags wird an der Ache gechillt, gegen Abend wird gefeiert. So läuft das Programm auch heute wieder ab, mit dem Unterschied, dass die zwei Girls von SXTN bereits als Opener auf dem Festivalgelände spielen und ordentlich Massen ins Infield bewegen. Viel Abkühlung bleibt heute nicht, denn der Tag wird richtig heiß und vor allem weiblich. Mit SXTN, Sookee und Jennifer Rostock stehen gleich drei mal hintereinander Frauen auf der Bühne, die ihres Gleichen suchen. Aber auch auf der Zeltbühne wird es mit Heisskalt (wie der Name schon sagt) heiß.

Wie der Tag enden würde hätte beim Beginn von SXTN’s Konzert noch keiner gedacht. Über die Chiemsee Summer App wurden zwar ständig Mitteilungen über Wetter-Updates gepusht, aber so richtig ernst wollte die am Nachmittag noch niemand nehmen. Wieso auch? Es waren ja wieder knapp 30 Grad Celsius und am Himmel war keine einzige Wolke zu sehen. Wieso also eine Jacke mitnehmen? Die kann man bei der wilden Performance von Juju und Nura doch höchstens in der Luft rumwedeln. Als weiblicher Pendant zu Aggro Berlin haben sich die beiden Berlinerinnen in den letzten beiden Jahren einen Namen gemacht. Mit ihren Texten, die nicht immer frauenfreundlich gehalten sind, finden die selbsternannten Fotzen vor allem bei der weiblichen Zuhörschaft Anklang. Dass Frauen bei Texten wie „Hass Frau – du nichts, ich Mann“, der sie als reine Lustobjekte abstempelt lauthals mitgröhlen sieht man wirklich nicht alle Tage. Doch gerade durch diese Provokationen machen sie sich natürlich immer bekannter. Früher hat das bei Jennifer Rostock auch schon funktioniert. Unter der für den frühen Nachmittag schon großen Crowd finden sich aber auch viele Kerle, die bestimmt nicht nur wegen der Musik gekommen. Schlecht sehen die Girls auch wirklich nicht aus.


Dass die Antilopen Gang heute nicht auftreten kann war bereits am Donnerstag klar. Der Rapper Panik Panzer liegt immer noch verletzt im Krankenhaus und warten auf seine nächste Operation. Als Ersatz springt dafür Sookee ein. Ein würdiger Ersatz ist die 33-jährige allemal. Auch sie rappt sowohl unter ihrem Pseudonym Sookee, als auch unter ihrem zweiten Quin of Berlin deutsche Texte, in denen sie gegen Homophobie, Sexismus und natürlich auch Rassismus kämpft. Das Shirt von der Antilopen Gang, dass sie unter ihrer Jeansjacke trägt rundet das Ganze perfekt ab.

Heisskalt spielen auf der Zeltbühne. Die Kälte haben sie leider vergessen. Die Seitenwände des Zelts sind zwar so weit es möglich ist geöffnet, atmen kann man dennoch kaum. So langsam wäre ein kleiner Regenschauer wirklich nicht verkehrt? Wann kommt den das Gewitter? Kurzer Blick auf die Wetter-App: Es verschiebt sich immer weiter Richtung Mitternacht. Vielleicht wird es auch erst zu Caspers Auftritt zu regnen beginnen. Da ist es aber schon dunkel und kühler, also wäre jetzt ein bisschen Regen nicht verkehrt. Der Wettergott erhört mich trotzdem nicht. Also los in den stickigen Fotograben um die Stuttgarter zu fotografieren. Musikalisch sind sie dem Alternative Rock zuzuordnen, auch wenn sie hin und wieder an den klassischen Punk-Rock mit deutschen Texten erinnern. Im ersten Song fällt Sänger und Gitarrist Mathias Bloech seine komplette Technik aus. Geht ja schon mal gut los. Die Rowdies richten das aber schnell wieder und es kann problemlos weitergehen. Die Menge feiert ausgelassen mit, mir wird es zu stickig. Ich muss hier raus.

Lieber wieder auf die Hauptbühne zu Jennifer Rostock. Neben dem Soutside Festival und dem Taubertal Festival eine Woche zuvor ist es heute das dritte mal in disem Jahr, dass ich die mittlerweile in Berlin ansässige Rock-Band fotografieren darf. Auf gut Deutsch: sie nehmen dieses Jahr wirklich jedes Festival mit. Und das mit recht! Trotz der bald 10-jährigen Bandgeschichte hat Jennifer Weist nicht mal ein bisschen ihrer Ausstrahlung und provokanten Art verloren. Sie bringt die eh schon heiße Atmosphäre zum Kochen! Es wird gepogt, es wird geschwitzt. Die Frage nach einem Feuerzeug beim Song „Feuer“ kann sie sich sparen. Die Crowd brennt lichterloh für sie!

Gegen Abend wird es ein bisschen kühler und die offizielle Prognose über die Chiemsee Summer-App sagt, dass der Auftritt von the Offspring trocken über die Bühne gehen wird. Recht hat sie, aber dazu gleich mehr. 1984 gegründet kann man die vier Kalifornier fasst schon zum alten Eisen zählen. Nicht, weil sie alt und grau geworden sind, sondern weil sie sich nunmehr seit 33 Jahren bewährt haben. Das muss man auch erst einmal als Punk-Band schaffen. Die Fans zollen ihnen gebührenden Respekt, der Platz vor der Hauptbühne ist exzellent besucht. Neben Songs des aktuellen Albums wird sich quer durch die Diskografie gespielt. Selbst „Pretty Fly“ wird gespielt und natürlich „Self Esteem“. Das „Self Esteem“ aber zeitgleich der letzte Song sein wird, war nicht bedacht.

Und nun ist es da. Das Gewitter zeigt sich in seinem vollen Ausmaß. Schon die ganze Zeit waren Wetterleuchten während des Auftritts von The Offspring zu sehen. Schon ungefähr eine halbe Stunde vorher meinte ein Münchner Kollege, dass dort bereits die Welt untergehen würde. Hoffentlich bleibt der Chiemsee Summer weitestgehend verschont. Ich wollte doch die ganze Zeit meinen Regen, aber doch nicht so. Regen gab es auch tatsächlich noch nicht, als die Evakuierung eingeleitet wurde. Im Pressezelt waren wir, Gott sei Dank, alle schon entsprechend vorbereitet. Die wenigsten mussten noch hektisch zusammenpacken.

Was das Infield plötzlich überkommt ist schwer in Worte zu fassen… Es war die letzten Tage sehr heiß und der Boden ist infolgedessen sehr trocken. Dass der aufkommende Wind jede Menge Staub aufwirbelt ist klar. In dieser Form hab ich das selbst aber noch nicht erlebt. Wie eine riesige Welle gleitet die Staubwolke über den Bauzaun, der das Infield vom Backstage-Bereich trennt. Die ersten Sachen fliegen schon durch die Gegend. Was es genau war? Ich kann es nicht sagen, die Sicht war viel zu gering. Mein Kollege Matthias Kimpel und ich wussten Bescheid: jetzt kämpft jeder für sich, wir treffen uns hoffentlich heil am Auto wieder. Ein paar Schritte gegangen und die Staubwelle hat sich zu einer undurchsichtigen Wand entwickelt. Die Sicht hat sich auf einen gefühlten Meter reduziert. Überall waren Menschen, überall waren Stimmen. Wo ist der Ausgang? Folge ich der Masse oder bahne ich mir meinen eigenen Weg? Wie bereits beim Southside Festival im letzten Jahr hab ich mich für die zweite Option entschlossen. Es geht so deutlich schneller stelle ich fest. Ich muss nicht einmal jemanden aus dem Weg stoßen um durchzukommen.

Schemenhaft nehme ich die Umrisse einer menschlichen Gestalt war, die mitten in der Menge steht und nicht mehr weiterläuft. Ich habe sie nicht gefragt, sondern einfach an der Hand genommen und mit nach draußen genommen. Das ist zu gefährlich, stehen zu bleiben, wenn um dich herum die Fetzen fliegen, 20.000 Menschen in Bewegung sind und man nichts sieht. Das Infield erst einmal verlassen erzählt sie mir, dass sie ihre Freunde verloren hat. „Du weißt aber wo euer Auto steht“, frage ich, was sie bejaht. „Dann lauf dorthin, ihr findet euch dort wieder! Versprochen“. Sie gehorcht und ich bahne mir wieder meinen Weg zu meinem Auto. Aufschließen, Tür gegen den Wind drücken, um sie überhaupt zu öffnen, hineinsetzen, Warnblinker anmachen, falls noch jemand Unterschlupf braucht. Wo ist Matthias? Im selben Moment reißt er die Beifahrertür auf. Es stürmt und regnet in Strömen. Camp FM ist auch tot. Das geht heute nicht mehr weiter ist mein erster Gedanke. Zwei mit der Situation völlig überforderte Mädels kämpfen sich an unser Auto und steigen komplett durchweicht und völlig aufgelöst ein. In so einer Situation muss man Optimismus versprühen. Das hat gut geklappt. Wir haben die Mädels mit trockenen Pullovern und Strom für ihre Smartphones versorgt. Eine von ihnen bekommt später per App durchgepusht, dass es heute nicht mehr weitergeht. Der Auftritt von Casper fällt aus und auch Frittenbude wird nicht spielen. Casper… den hab ich ganz vergessen. Heute Mittag war ich noch total geflasht, weil ich seinen Soundcheck miterleben durfte und nun denke ich nicht mehr an ihn.

Die Meldung geht durch, dass es draußen wieder sicher wäre und die Campingplätze wieder geöffnet sind. Die Mädels verabschieden sich und suchen nach ihren Freunden und auch wir setzen uns in Bewegung um im Camp unserer Regensburger Bekanntschaften nach dem Rechten zu sehen. Keiner da, das Camp komplett zerstört. Der Weg dort hin war wie über ein Schlachtfeld zu laufen. Aufgelöste Menschen liegen den Securities in den Armen, in Rettungsdecken gehüllt, andere sitzen bei den Sanis, um sich checken zu lassen. Auch ohne die Schäden am Gelände: das hätte so heute nicht weiter gehen können. Matthias und ich machen uns auf den Weg in unser Hotel. Dort angekommen erfahren wir über Facebook von den Regensburgern, dass es ihnen gut geht. Gott sei dank! Und auch den anderen Kollegen geht es gut.

Schon spät Nacht dann das endgültige Update: Der Chiemsee Summer 2017 wird nicht fortgesetzt… die Schäden am Gelände sind zu groß…

Hier geht’s lang zum Mittwoch + Donnerstag beim Highfield Festival 2017!